Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberstufe mehrklassiger Schulen

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Es ist unmöglich, diese brüllenden Wogen zu betrachten, ohne zu dem Ge¬ 
danken zu kommen, daß einer solchen Macht selbst der härteste Fels weichen 
müßte. Aber die Korallenbänke halten alle Angriffe siegreich aus. Die 
Brandung mag ihnen Tausende von Blöcken entreißen; aber was will 
das bedeuten gegen die sich immer wieder anhäufenden Arbeiten unzähliger 
Millionen von kleinen Baumeistern, die Tag und Nacht, jahraus, jahrein 
damit beschäftigt sind, den schäumenden Wogen Kalktheilchen -ju entziehen, 
um sie zu ihren wundervollen Bauwerken zu verwenden. So besiegt die 
Lebenskraft, die in dem weichen, gallertartigen Körper eines Polypen weilt, 
die Riesenstärke des Oceans, welchem weder die Werke der menschlichen 
Kunst, noch der leblosen Natur widerstehen können. Hartwig. 
399. Vergeben — vergessen! 
Die Kaiserin von Rußland hatte ihrem königlichen Vater 
Friedrich Wilhelm III. eine aus Asien gekommene, bis dahin in Deutsch¬ 
land noch unbekannte Blume von seltener Pracht und angenehmem 
Dufte geschickt, die von dem Hofgärtner Fintelmann auf der Psaueninsel 
bei Potsdam in dem sonnigen, prächtigen Palmenhause gepflegt wurde 
und sich herrlich entfaltete. Der König, ein Freund der Blumen, hatte 
seine stille Freude an dieser seltenen Pflanze, betrachtete sie oft und 
nannte sie nach seiner geliebten Tochter Charlotte. So oft er um 
diese Zeit nach der Pfaueninsel kam, fragte er daher gleich beim ersten 
Schritte ans Land: „Wie geht es meiner lieben Charlotte?" was denn 
die Aufmerksamkeit und Fürsorge des Gärtners natürlich verdoppelte. 
Wer beschreibt daher den Schrecken und die Angst des Mannes, als er 
an einem der drei Tage, die im Sommer allwöchentlich zum Besuche der 
Pfaueninsel bewilligt sind, und an denen sich oft Tausende einfinden, im 
Palmenhanse wahrnahm, daß die seinem königlichen Herrn so werthe 
Blume ganz und gar abgepflückt sei. 
Im höchsten Grade aufgebracht durchläuft er die Menge der fremden 
Gäste, umherschauend, ob er nicht bei irgend einem das geraubte Kleinod 
wahrnehmen möchte. Zuletzt,, stellt er sich ans Ufer in die Nähe des 
Schisses, mit dem alle die Überfahrt machen müssen. Nicht lange hat 
er dort gestanden, als er einen jungen, wohlgekleideten Mann erblickt, 
der die theure Blume wirklich im Knopfloch seines Rockes trägt und 
heiter und unbefangen, als wenn nichts Übels geschehen, einherschreitet. 
Der Hofgärtner faßt ihn an und stellt ihn zur Rede über den von ihm 
begangenen Raub; der Fremde entschuldigt sich mit seiner Unwissenheit 
und bedauert und beklagt die von ihm leichtsinnig verübte That. Der 
entrüstete Gärtner kann sich jedoch damit nicht zufrieden geben; er führt 
den bestürzten jungen Mann in seine Wohnung und verlangt in Gegen¬ 
wart von drei Zeugen über seinen Namen und Stand schriftliche Auskunft. 
Als der König bald nachher zur^ Pfaueninsel kam und wie gewöhnlich 
fragte: „Was macht meine liebe Charlotte?" und der Hofgärtner ihm 
mit Thränen in den Augen den schmerzlichen Verlust mittheilte, drückte 
sich zwar Unwillen auf seinem Angesichte ans; doch bemerkte er nur, es 
sei doch Unrecht, ihm so auch seine kleinen Freuden zu verderben. „Das
	        
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