Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberstufe mehrklassiger Schulen

77 
freundlichen Winke des Reiters leiten es mehr; eine rohe Hand fesselt es 
an den schweren Karren und führt die Peitsche mit grausamer Übung. 
Kaum vermag es noch, im düstern, von Spinnweben ausgekleideten Stall, 
aus moderiger Krippe sein hartes Futter zu zermalmen. Nur ein schmach¬ 
voller Tod erlöst cs von seinen Leiden. R. Meyer, 
65. Zeus und das Pferd. 
„Vater der Thiere und der Menschen", so sprach das Pferd und nahte 
sich dem Throne des Zeus, „man will, ich sei eines der schönsten Ge¬ 
schöpfe, mit denen du die Welt geziert, und meine Eigenliebe heißt mich 
es glauben. Aber sollte gleichwohl nicht noch Verschiedenes an mir zu 
bessern sein?" — „Und was meinst du denn, daß an dir zu bessern sei? 
Rede, ich nehme Lehre an", sprach der gute Gott und lächelte. „Vielleicht", 
sprach das Pferd weiter, „würde ich flüchtiger sein, wenn meine Beine 
höher und schmächtiger wären; ein langer Schwanenhals würde mich nicht 
entstellen, eine breitere Brust würde meine Stärke vermehren, und da du 
mich doch einmal bestimmt hast, deinen Liebling, den Menschen, zu tragen, 
so könnte mir ja wohl der Sattel anerschaffen sein, den mir der wohlthätige 
Reiter auflegt." 
„Gut", versetzte Zeus, „gedulde dich einen Augenblick." — Zeus, mit 
ernstem Gesichte, sprach das Wort der Schöpfung. Da quoll Leben in 
den Staub, da verband sich organisierter*) Stoss, und plötzlich stand vor 
dem Throne — das häßliche Kamcel. Das Pferd sah, schauderte und 
zitterte vor Entsetzen und Abscheu. „Hier sind höhere und schmächtigere 
Beine", sprach Zeus; „hier ist ein langer Schwanenhals, hier ist eine 
breitere Brust, hier der anerschafsene Zattel! Willst du, Pferd, daß ich 
dich so umbilden soll?" Das Pferd zitterte noch. — „Geh", fuhr Zeus 
fort, „dieses Mal sei belehrt, ohne bestraft zu werden. Dich deiner Ver¬ 
messenheit aber dann und wann reuend zu erinnern, so — daure du fort, 
neues Geschöpf" — Zeus warf einen erhaltenden Blick auf das Kameel — 
„und das Pferd erblicke dich nie, ohne zu schaudern." Leinng. 
66. Gesundheit ist ein großer Schaß. 
Kunz ging einmal über Land und kam matt und verdrossen bei einem 
Gasthofe an, wo er sich einen Krug Bier und ein Stück schwarzes Brot 
geben ließ. Er war unzufrieden, daß er seine Reise zu Fuß machen mußte 
und dabei nichts besseres essen konnde. 
Kunz saß noch nicht lange im Gasthofe, da kam ein schöner Wagen 
gerollt, in dem ein reicher Manu saß, der sich ein Stück kalten Braten 
und eine Flasche Wein reichen ließ, was er in seinem Wagen verzehrte. 
Kunz sah ihm hämisch zu und dachte: „Wer es doch auch so hätte!" Der 
*) Organ (griech.) — Werkzeug, Theil eines Ganzen mit einer besonderen Function 
(Verrichtung). Organismus — ein Ganzes, in verschiedene Theile sich gliedernd, 
welche mit ihren besonderen Functionen alle einem obersten Zwecke dienen. Organi¬ 
sieren ---- eine Masse oder Menge so gestalten und einrichten, daß sie ein solches lebens- 
und zweckvolles Ganzes (einen Organismus) bildet.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.