Full text: Lesebuch zur Geschichte der deutschen Literatur alter und neuer Zeit

Die klassische Periode. — Heinse. Winckelmann. 267 
finden weiß, kühner als Hercules und alle Helden der vorigen Zeitalter. Wenn 
die Wogen so den Hafen hereinbrechen, und sich an seine hohe Mauer hinauf— 
wälzen, bis über die Dächer der Häuser, die da stehen, und Schaum und Meer 
wie ein Wolkenbruch wieder herabströmt, und mit dem neu herbeirauschenden 
Ungestüm sich klatschend zu Staub wirbelt: wie lebt die Natur da in meinem 
Sinn und ergreift mit Musik mein Wesen! 
LII. Lessing. 
1. Johann Winckelmann. 
. 110. Lehrb. d. 849. Allgem. Weltg. XIII, 615 ff) 
(Aus der Geschichte der Kunst des Alterthums.) 
Der vaticanische Apollo. 
Die Statue des Apollo ist das höchste Ideal der Kunst unter allen 
Werken des Alterthums, welche der Zerstörung entgangen sind. Der Künstler 
derselben hat dieses Werk gänzlich auf das Ideal gebauet, und er hat nur eben 
so viel von der Materie dazu genommen, als nöthig war seine Arbeit auszu— 
führen und sichtbar zu machen. Dieser Apollo übertrifft alle anderen Bilder 
desselben so weit als der Apollo des Homerus den, welchen die folgenden 
Dichter malen. Ueber die Menschheit erhaben ist sein Gewächs, und sein Stand 
zeuget von der ihn erfüllenden Größe. Ein ewiger Frühling, wie in dem 
glücklichen Elysion, bekleidet die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre mit 
gefälliger Jugend und spielt mit sanfter Zärtlichkeit auf dem stolzen Gebäude 
seiner Glieder. Gehe mit deinem Geiste in das Reich unkörperlicher Schön— 
heiten und versuche ein Schöpfer einer himmlischen Natur zu werden, um den 
Geist mit Schönheiten, die sich über die Natur erheben, zu erfüllen: denn hier 
ist nichts Sterbliches, noch was die menschliche Dürftigkeit erfordert. Keine 
Adern noch Sehnen erhitzen und regen diesen Körper, sondern ein himmlischer 
Geist, der sich wie ein sanfter Strom ergossen, hat gleichsam die ganze Um— 
schreibung dieser Figur erfüllet. Er hat den Python, wider welchen er zuerst 
seinen Bogen gebraucht, verfolget, und sein mächtiger Schritt hat ihn erreichet 
und erleget. Von der Höhe seiner Genügsamkeit geht sein erhabener Blick wie 
ins Unendliche weit über seinen Sieg hinaus: Verachtung sitzt auf seinen Lip⸗ 
pen, und der Unmuth, welchen er in sich zieht, blähet sich in den Nüstern seiner 
Nase und tritt bis in die stolze Stirn hinauf. Aber der Friede, welcher in 
einer seeligen Stille auf derselben schwebet, bleibt ungestört, und sein Auge ist 
voll Süßigkeit, wie unter den Musen, die ihn zu umarmen suchen. In allen 
uns übrigen Bildern des Vaters der Götter, welche die Kunst verehret, nähert 
er sich nicht der Größe, in welcher er sich dem Verstande des göttlichen Dich⸗ 
ters offenbarte, wie hier in dem Gesichte des Sohnes, und die einzelnen Schön⸗ 
heiten der übrigen Götter treten hier in Gemeinschaft zusammen. Eine Stirn 
des Jupiters, die mit der Göttin der Weisheit schwanger ist, und Augen— 
braunen, die durch ihr Winken seinen Willen erklären, Augen der Königin der 
Göttinnen, mit Großheit gewölbet. Sein weiches Haar spielet, wie die zarten 
und flüssigen Schlingen edler Weinreben, gleichsam von einer sanften Luft be— 
wegt, um dieses göttliche Haupt, es scheint gesalbet mit dem Oel der Götter 
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