Die klafsische Periode. Joh. Kaspar Lavater. Goethe. 299
Großen. Er hat nicht die hinlässige Verachtung des Tyrannen, er hat die
Anslrengung dessen, der Widerstand findet, dessen, der sich im Widerstande
bildet; der nicht dem Schicksale, sondern großen Menschen widerstrebt; der
unter großen Menschen geworden ist. Nur ein Jahrhundert von Trefflichen
konnte den Trefflichsten durch Stufen hervorbringen. Er kann keinen Herrn
haben, kann nicht Herr sein. Er hat nie seine Lust an Knechten gehabt.
Unler Gesellen mußte er leben, unter Gleichen und Freien. In einer Welt
voll Freiheit edler Geschöpfe würd' er in seiner Fülle sein. Und daß das
nicht so ist, schlägt im Herzen, drängt zur Stirne, schließt den Mund, bohrt
im Blicke. Schaut hier den gordischen Knoten, den der Herr der Welt nicht
lösen konnte.
2. Christus muß wachsen, ich aber muß abnehmen.
(Am Neusahrstage 1780.)
O Jesus Christus, wachs' in mir, Ich sei ein lebend Bild von dir
und alles andre schwinde! im Glück und wenn ich leide!
Mein Herz sei täglich näher dir, Mach alles in mir froh und gut,
und ferner von der Sünde. daß stets ich minder fehle!
Laß täglich deine Huld und Macht Herr, deiner Menschenliebe Gluth
um meine Schwachheit schweben! durchglühe meine Seele!
Dein Licht verschlinge meine Nacht Mein eignes eitles leeres Ich
und meinen Tod dein Leben! sei jeden Tag geringer!
Beim Sonnenstrahle deines Lichts O würd' ich jeden Tag durch dich
laß jeden Wahn verschwinden! dein würdigerer Jünger!
Dein Alles, Christus, und mein Nichts Der Glaub' an dich und deine Kraft
laß täglich mich empfinden! sei Trieb von jedem Triebe;
Blick immer herrlicher aus mir, sei du nur meine Leidenschaft,
voll Weisheit, Huld und Freude! du meine Freud' und Liebe!
V. Wolfgang Goethe.
(5. 17 123. 14 S. Lehrb. 8. 852. 853. 861. Alla. Welta. XIII. 630 ff)
. Aus der Sesenheimer Zeit.
(. 1117. Lehrb. g. 862)
Auf einer großen Buche im „Nachtigallenwalde“ wurde eine Tafel mit dem Namen vieler Freunde aufgehängt
und ganz unten schrieb G. den seinigen mit folgendem Sinnspruch
Dem Himmel wachs' entgegen Und soll ein Nam verderben
Der Baum, der Erde Stolz. So nehmt die obern in Acht
Ihr Wetter, Stürm' und Regen, Es mag der Dichter sterben,
Verschont das heil'ge Holz! Der diesen Reim gemacht.
Abschied von Frideriken.
Ein grauer trüber Morgen O liebliche Friderike
Bedeckt mein liebes Feld. Dürft' ich nach dir zurück!
Im Nebel tief verborgen In einem deiner Blicke
Liegt um mich her die Welt Liegt Sonnenschein und Glück.