Full text: Lebensbilder aus Sage und Geschichte (Vorstufe)

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Lebensbild einer Athenerin. 
den großen Haushalt täglich gemahlen wurde. Aber spinnen und weben 
mußte sie lernen wie die fleißigen Sklavinnen, die alle im Hanse gebrauchten 
Gewänder und Decken verfertigten. Da galt es, die feinen Fasern der 
Wolle oder des Flachses auf den Spinnrocken wickeln und dann mit der 
Hand den Faden drehen und ihn um die freihängende Spindel wickeln (denn 
Spinnräder gab es noch nicht!). Der gesponnene Faden wurde dann auf 
den Webstuhl gespannt, und nun mußte man das Schiffchen durch die senk¬ 
rechten Fäden hindurchführen. So wurde das feine weiße Leinen gewebt, 
so auch bunte Wollstoffe, saffrangelbe und purpurrote, und als das heran¬ 
wachsende Mädchen das machen konnte, da zeigte ihm die Mutter, wie man 
mit der Nadel bunte Borten hineinstickt und Figuren von Menschen und 
Tieren, und bewundernd sagten die Sklavinnen, sie „male" mit der Nadel. 
— Dann lernte sie noch etwas, was keine der Sklavinnen konnte: lesen 
und schreiben. Mutter und Vaters Bruder, der 
ihr Vormund war, lehrten es sie, obgleich es viele 
Mädchen nicht konnten, und bald hatte sie ihre 
Freude daran, als sie aus der großen Schriftrolle 
Homers Verse lesen konnte oder als sie gar der 
Mutter eine Schriftrolle bringen konnte, auf die 
sie selbst in den zierlichen Buchstaben der griechi¬ 
schen Schrift einen Lobgesang auf Athene abge¬ 
schrieben hatte. 
Solche ernste Arbeit brachte sie der großen, 
klugen Stadtgöttin, der Göttin der Weisheit und 
der kunstvollen Arbeit, näher, und als sie elf Jahre 
Stickerin. Griechisches Basenbild, alt war, erlebte sie die höchste Ehre, die ein so 
kleines Mädchen in Athen erleben konnte: sie wurde 
mit drei andern zum Dienste der Athene gewählt, und am Geburtstage der 
Göttin mußte sie auf die Burg kommen und dort unter Leitung der Priesterin 
das große Gewand anfangen, das man der Göttin alle vier Jahre für 
ihr Holzbild auf der Burg schenkte und an dem fast alle Bürgerinnen Athens 
nacheinander webten. Angefangen aber wurde es von Kinderhänden, und 
unsre Kleine war sehr stolz, als ihre geschickten Fingerchen das heilige Werk 
begannen. Als es dann nach vier Jahren fertig war, durfte das junge 
Mädchen zum ersten Male öffentlich mit im Festzuge gehen, der das Gewand 
auf die Burg brachte. Zu zweien, in weißen Kleidern, den Blick schüchtern 
zur Erde gesenkt, so schritt die Mädchenschar feierlich dahin, und dahinter 
kamen die jungen Männer auf feurigen Rossen. 
B. Eheleben. Gleich nach diesem Festtage kam eine große Wendung in 
ihr Leben: eines Morgens wurde sie in die große Halle gerufen und fand 
dort Mutter, Vormund und den jungen Sohn ihres Vormundes, mit dem 
sie wohl früher einmal gespielt hatte, der dann aber lange auf Reisen ge-
	        
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