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Aber der Sperber entflieht schon. Ewige Weisheit, warum störest du
durch diese grausamen Räuber eine so unschuldige Freude, warum verbreitest
du Schrecken unter diese friedlichen Waldbewohner? Daß doch die Sperber,
die Falken, die Adler, die Geier. . . Was red' ich, Thörichter? Schweig',
blinder Sterblicher, und forsche nicht, was dir zu hoch Et. Die Ursache der
Dinge ist verschlossen in der Brust Desjenigen, der sie aus dem Nichts her¬
vorgezogen und geordnet hat. Wer darf sich unterfangen, den Allmächtigen
darüber zur Rede zu stellen? Es genüge dir zu wissen, daß stets eine un¬
endliche Gerechtigkeit und Güte seine Rathschlüsse leitet. Du im Gefühle
deiner Nichtigkeit, bete ohne Unterlaß diese stets gerechten und heiligen Rath
schlüsse an!
So lange der Mensch diese niedrige Erde bewohnt, ist er noch fern von
dem Lande des Lichtes. Er findet sich hier in einem dunkeln Lande, sieht
nur einen Strahl von der ewigen Weisheit, der ihm den Weg dahin zeigt,
wo er sie in vollem Glanze schaut. Genug, Pilger, wenn du den Weg weißt,
und ihn wandelst. Am eivigen Ziele angelangt, wirst du sie schauen. Und
gleichwie der Besitz des höchsten Gutes und die Fülle der Liebe dir dort
zur Belohnung wird, weil du hienieden die unmäßigen Begierden deines
Herzens bezähmt lind dich vor Ausschweifungen bewahrt hast: so wird dich
auch dort der Besitz der ewigen Weisheit und der ewigen Wahrheit dafür
belohnen, daß du das unmäßige Streben deines Geistes in heiligen Schranken
gehalten.
Aber du magst die Geier und Sperber nicht leiden? So hüte dich
denn, daß du nicht selbst einer werdest. Die Raubvögel folgen dem un¬
schuldigen Triebe der Natur. Die Adler unb Falken in Menschengestalt,
diejenigen, die das Laster dazu bildet, verdienen Abscheu und Strafe. Der
strenge Spartaner flößte seinen Kindern die Mäßigkeit ein durch den häßlichen
Anblick des entgegengesetzten Lasters, indem er ihnen seine betrunkenen Sklaven
vorführte. Die göttliche Weisheit stellt dir eine große Tugendschule v0'>
Augen in deinen Sklaven. Sie zeigt dir an den Thieren, über welche sie
dir die Herrschaft gegeben hat, das deutliche Bild der Tugenden, womit du
dich schmücken, und der Laster, die du fliehen sollst. Du siehst das eine sich
im Küthe wälzen und wendest unwillig deinen Blick davon weg. Da hast
du ein Bild; denk' daran! Weit unwürdiger noch handelt der Mensch, der
sich im Schlamme niedriger Lüste wälzt. Ein gieriger Wolf fällt deine Herde
an; der Fuchs schleicht sich verstohlen in deine Wohnung, um zu rauben.
Ereifere dich nicht. Das sind nur Bilder von Verbrechern. Der wahre
räuberische Wolf, der verwünschte Fuchs ist der Mensch, welcher mit offener
Gewalt oder heinitückisch seinem Milbruder Schaden thut oder nachstellt. Hüte
dich, daß das verdammliche Verbrechen nicht ans dich falle. Der Rabe belästigt
dich mit seinem widerlichen Krächzen. Lerne daraus, deine geschwätzige Zunge,
das Werkzeug des Unverstandes, zu beherrschen. Schau hin auf das sanfte
Lämmlein und lerne von ihm die Sanftmuth; die reine Taube lehre dich die
Unschuld kennen. Das Hündlein, welches dankbar seinem Herrn schmeichelt/. . .
Ewiger Gott! in welchen kleinen Dingen stellst du unserem Blicke erhabene
Gegenstände, hohe Tugenden vor. Wer kann vor dem großen Gesetzgeber
seine böse That vertheidigen! Sogar seine uns untergeordneten Geschöpfe
lehren uns das, was er verbietet oder gebietet. Ein Hund beschämt den
Undankbaren; ein .Hund lehrt uns Erkenntlichkeit und Liebe gegen unsern
Dchöpfer. . Mensch, erröthe! Bist du deinem Gott so getreu, wie dieses
Thier demjenigen, der es nährt? Du murrest und zürnest, wenn dein liebe
voller Herr dich züchtigt, um deine tödtlichen Wunden zu heilen. Der Hund
Kellner, Lesebuch. 7. Aust. 39