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Hl. Cultur und Literatur der letzten Zeit des
Heidenthums.
§. 1. Römisches Leben.
Ein mächtigeres Reich als das römische in seiner Kraft und Blüthe
hat nie bestanden. Von dem westlichen Weltmeere bis an den Euphrat,
von der Nordsee und der Donau bis zu den Wasserfällen des Nil waren
alle Länder und Völker dem römischen Kaiser unterthänig. Lusitanien,
Spanien, Gallien, Belgien, Britannien bis an die schottischen Grenzen,
das cisalpinische Gallien, Helvetien, Rhätien und Vindelicien (ein Theil
von Schwaben, Tyrol und Baiern), Pannonien, Dacien, Mösien (das
heutige Bulgarien und Serbien), Jllyrien, Macedonien, Griechenland,
Kleinasien, Syrien, Palästina, erkannten die römische Herrschaft an, Aegyp¬
ten, Karthago, Numidien und Mauretanien gehorchten ihren Befehlen.
Wo das römische Regiment waltete, verbreitete sich römische Sprache
und Cultur. Straßen, Brücken, Wasserleitungen, Grenzwälle und Festun¬
gen wurden in den unterworfenen Ländern erbaut, wo die Thätigkeit der
Römer zugleich den Acker- und Gartenbau heimisch machte und wo aus
den unwirthbaren Sümpfen und Waldungen freundliche Dörfer und Städte
emporblühten. In Numidien und Mauretanien gab es Gegenden, in wel¬
chen das Korn 240fältige Frucht trug. Alexandria in Aegypten war der
Mittelpunkt des Welthandels geworden. Von hier aus besuchten römische
Handelsschiffe die Küsten des mittelländischen und schwarzen Meeres;
Karawanen brachten über Arabien die Schätze Indiens herbei. In Syrien
blühten Künste und Gewerbe; Antiochia und Seleucia war der Sitz des
feinsten Lebensgenusses. Mitten in der Sandwüste auf einer wasserreichen
Oase lag das stolze palastreiche Palmyra. Man durfte in dem römischen
Reiche mehr als hundert Städte aufzählen, die an Pracht und Herrlichkeit
der Hauptstadt nahe kamen, jedoch keine einzige, die ihr an Macht und
Einfluß den Rang streitig machen konnte.
In ihr war der lebendige Pulsschlag, welcher den Gliedern des gro¬
ßen Reiches Leben und Bewegung verlieh. Religion und Gesetzgebung,
Heerwesen und Verwaltung, Bildung und Wissenschaft fanden in Rom
ihren Vereinigungspunkt. Die Masse von Fremden, welche aus allen
Theilen der Welt hier zusammenströmten, hatten das Recht, ihren heimi¬
schen Religionscultus in Rom auszuüben; so wurde Rom der gemeinsame
Tempel seiner Unterthanen. „Das römische Bürgerrecht ward allen Göt¬
tern des Menschengeschlechts ertheilt." Dafür ging auch von Rom aus
das eine Gesetz und das eine Recht, welches, seit einer Reihe von Jahr¬
hunderten ausgebildet und gereift, von einer Grenze des Reiches bis zur
anderen in voller Gleichmäßigkeit herrschte. Dasselbe Heerwesen, dieselbe