Full text: Lehrbuch zur Kenntniß der verschiedenen Gattungen der Poesie und Prosa für das weibliche Geschlecht, besonders für höhere Töchterschulen

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Held des Trauerspiels durch große Eigenschaften über die gewöhn¬ 
lichen Menschen hervorragen; denn kleinliche Fehler und niedrige 
Leidenschaften können nur Abscheu, aber nie Bewunderung erregen, 
und also nie ein Gegenstand des Trauerspiels sein. Entweder 
steht der Held wirklich als ein höchst edler Mensch da, der ohne 
seine Schuld gegen das Unglück ankämpft, oder er erscheint zwar 
als ein Verirrter, dessen Seelenstärke aber doch eine hohe Theil¬ 
nahme erweckt. 
Es giebt zwei Formen des Tragischen: das des einfachen 
Conflikts und das Tragische der sittlichen Collision. Jenes 
beruht vorzugsweise auf dem Charakter, dies vorzugsweise auf 
der Situation. Das Tragische des einfachen Conflikts beruht 
darauf, daß der Charakter durch seine Fehler in Kampf mit der 
Welt und dem Schicksal geräth und in diesem Kampfe untergeht; 
in den Tragödien der Situation beruht das Tragische auf einem 
Kampfe gleichberechtigter sittlicher Mächte. 
Ferner spricht man von einem antiken und einem moder¬ 
nen Trauerspiele. In jenem kämpft der Held mit einem 
unüberwindlichen Fatum (Schicksal); so groß seine Kraft auch ist, 
so ist doch sein Untergang einmal beschlossen. Auch in neuerer 
Zeit ist diese Art des Trauerspiels, obgleich sie unsrer christlichen 
Weltanschauung nicht mehr entspricht, viel bearbeitet und Schick¬ 
sals-Tragödie genannt worden. Im modernen Trauerspiele 
hat es dagegen der Held mit eigenen oder fremden Leidenschaften 
zu thun, als deren Opfer er zuletzt fällt. 
Der Ausgang der Tragödie ist in der Regel blutig; doch ist 
dies keineswegs nöthig. Die Sprache ist würdevoll, dem Ernste 
der Handlung angemessen. Es hängt von dem Dichter ab, ob er 
in gebundener oder ungebundener Sprache schreiben will. Wählt 
er jene, so bedient er sich gewöhnlich des jambischen oder des 
trochäischen Versmaßes. Sonst waren die Alexandriner üblich; 
jetzt sind sie aber mit Recht außer Gebrauch gekommen. 
Unter den dramatischen Schöpfungen der Neuzeit verweisen 
wir, als klassisch in der Form, auf Göthe's „Jphigenia 
auf Tauris", aus welcher wir die nachstehenden Scenen 
mittheilen.
	        
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