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Wir sehen mit Vergnügen ein Landmädchen, an dem wir lauter Natür¬
lichkeit in ihrer Sprache, in ihrem Benehmen wahrnehmen; aber ihre Natür¬
lichkeit würde sich für die gebildete Jungfrau nicht passen, sie würde zum
Lächeln und Spötteln reizen, wenn sie so in einer Gesellschaft erschiene. Bei
dieser hat die Natürlichkeit höhere Grade; sie verläugnet das Schickliche, das
Wohlanständige nicht, und fällt nicht in das Gemeine, Rohe und Unge-
gebildete.
Es wäre z. B. natürlich, eine uns in der Gesellschaft zugefügte Belei¬
digung augenblicklich zu rächen; aber es zeigte von thierischer Rohheit, von
Unkultur, von Mangel an Selbstbeherrschung und gänzlicher Unkenntniß der
Pflichten, die wir der Gesellschaft schuldig sind. Es ist natürlich, selbst Un¬
reines, Schmutziges, Ekelhaftes mit dem rechten Namen, ohne Umschreibung
und Verhüllung zu bezeichnen; es verstößt aber gegen die Bildung, die man
von Damen erwartet, welche Ansprüche aus feinere Lebensweise machen. Dem
Natürlichen muß die bessere Sitte, die Scham, das Anständige und Schick¬
liche zur Seite gehen, es begleiten und unzertrennlich bei ihm bleiben. Wir
können nicht reden, was wir wollen, nicht sitzen, stehen und gehen, wie wir
wollen, so natürlich dies auch wäre; der Anstand schreibt andere Gesetze vor,
und übertreten wir sie, so fallen wir in's Grobe, Gemeine und Pöbelhafte.
Ein großer Gelehrter, wenn ich Rousseau *) so nennen darf, meinte auch, es
*) Jean Jacques Rousseau war 1712 in Genf geboren, der Sohn eines
Uhrmachers. Schon als Knabe hatte er seinen Geist durch fleißiges Lesen gebildet.
Auch er sollte Uhrmacher werden; aber er entlief, 15 Jahr alt, seinem harten
Lehrhcrrn, und wurde in Turin Bedienter, bis er zufällig an der Tafel seines
Herrn seine höhere Bildung einmal verrieth. Sein Herr entließ ihn beschenkt, und
nun kl'te er auf dem ©ute einer Dame den Wissenschaften und der Beobachtung
der Natur. Dreißig Jahr alt ging er nach Paris. Hier sah er auf der einen
Seite die Schwelgerei der Reichen und auf der andern die Armuth des niedrigen
Volks, und dies empörte ihn so, daß er den bittersten Haß gegen die damals be¬
vorrechteten Stände faßte. Nur im Zustande der Natur, meinte er, könnte der
Mensch glücklich leben; jede Verfeinerung aber wäre sein Unglück. Ja er be¬
hauptete im Ernste, daß die Wissenschaften und Künste alles menschliche Elend»
hervorgebracht hätten. Das zog ihm Spott und Verfolgung zu, so daß er ge¬
nöthigt war, Paris zu verlassen. Er ging nach Genf, kehrte aber bald wieder
nach Frankreich zurück, und wohnte im Dorfe Montmorency bei Paris, wo er
seine beiden berühmtesten Werke schrieb: die neue Heloise, und Emil oder über die
Erziehung. Das letztere, das bei vielem Trefflichen freilich auch manche sonderbare
Behauptung enthält, wurde von der Geistlichkeit angegriffen, vom Scharfrichter
verbrannt, und er war genöthigt, nach Genf zu fliehen. Aber auch hier wollte
man ihn nicht dulden. Er ließ stch im Kanton zu Neufchatel nieder. Doch auch
hier ließ man ihm keine Ruhe. Die Bauern warfen ihm, vom katholischen Geist¬
lichen dazu aufgewiegelt, die Fenster ein. Friedrich der Große ließ ihm Schutz
und Unterstützung anbieten. „Nein!" sagte Rousseau, „ich habe übel vom Könige
geredet, und kann daher keine Wohlthaten von ihm annehmen." Jetzt wohnte er
auf der kleinen Petersinsel im Bieler-See. Aber auch von da vertrieb ihn die
Berner Regierung. Er nahm darauf nach England seine Zuflucht, und lebte hier