Full text: Auswahl deutscher Dichtungen aus dem Mittelalter

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„Nein“ versetzte die Königin, „nein! so soll es nicht werden! 
Leben läßt euch mein Herr, und das Vergangne vergißt er 
Er bezwingt sich und zürnet nicht mehr. Doch möget ihr künftig 
Klüger handeln und treu und gewärtig dem Könige bleiben“ 
Reineke sagte: „Gnädige Frau, vermöget den König, 
Mir zu geloben vor euch, daß er mich wieder begnadigt, 
Daß er mir alle Verbrechen und Schulden und alle den Unmuth, 
Den ich ihm leider erregt, auf keine Weise gedenket, 
So besitzet gewiß in unsern Zeiten kein König 
Solchen Reichthum, als er durch meine Treue gewinnet, 
Groß ist der Schatz; ich zeige den Ort, ihr werdet erstaunen.“ 
„Glaubet ihm nicht,“ versetzte der König, „doch wenn er von Stehlen, 
Lügen und Rauben exzählet, das möget ihr allenfalls glauben 
Denn ein größerer Lügner ist wahrlich niemals gewesen.“ 
Und die Königin sprach: Fürwahr, sein bisheriges Leben 
Hat ihm wenig Vertrauen erworben; doch jetzo bedenket, 
Seinen Oheim den Dachs und seinen eigenen Vater 
Hat er diesmal bezichtigt und ihre Frevel verkündigt. 
Wollt' er, so konnt' er sie schonen und konnte von anderen Thieren 
Solche Geschichten erzählen; er wird so thöricht nicht lügen.“ 
„Meinet ihr so,“ versetzte der König, und denkt ihr, es wäre 
Wirklich zum Besten gerathen, daß nicht ein größeres Uebel 
Draus entstünde, so will ich es thun und diese Verbrechen 
Reinekens über mich nehmen und seine verwundete Sache. 
Einmal trau' ich zum letztenmal noch! das mag er bedenken; 
Denn ich schwör' es ihm zu bei meiner Krone! wofern er 
Künftig frevelt und lügt, es soll ihn ewig gereuen; 
Alles, wär' es ihm nur vexwandt im zehenten Grade, 
Wer sie auch wären, sie sollen's entgelten, und Keiner entgeht mir, 
Sollen in Unglück und Schmach und schwere Processe gerathen!“ 
Als nun Reineke sah, wie schnell sich des Königs Gedanken 
Wendeten, faßt er ein Herz und sagte: „Sollt' ich so thöricht 
Handeln, gnädiger Herr, und euch Geschichten erzühlen, 
Deren Wahrheit sich nicht in wenig Tagen bewiese?“ 
Und der König glaubte den Worten, und Alles vergab er, 
Erst des Vaters Verrxath, dann Reinekens eigne Verbrechen. 
Ueber die Maßen freute sich der; zur glücklichen Stunde 
War er der Feinde Gewalt und seinem Verhaͤngniß entronnen. 
„Edler König, gnädiger Herr!“ begann er zu sprechen, 
„Möge Gott euch Alles vergelten und eurer Gemahlin, 
Was ihr an mir Unwürdigem thut, ich will es gedenken, 
Und ich werde mich immer gar höchlich dankbar erzeigen; 
Denn es lebet gewiß in allen Landen und Reichen 
Niemand unter der Sonne, dem ich die herrlichen Schätze 
Lieber gönnte, denn eben euch Beiden. Was habt ihr nicht Alles
	        
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