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In dünne gläserne Röhren eingesperrt, hast du es gewiß schon 
oftmals in der Stube am Fenster auf einem schmalen, langen Brette 
hängen sehen. Da ist es gar ein Wetterprophet und prophezeit dir, 
ohne daß es hinaussieht, was draußen für Wetter eintreten wird, 
und sagt dir, ob du einen Sonnenschirm oder einen Regenschirm aus 
deinen Spaziergang mitnehmen sollst. Dem Schisser auf dem Meere 
kündigt es einen bevorstehenden Sturm an, damit er seine Einrichtung 
danach treffe; den Gebirgsreisenden und kühnen Luftschiffern aber 
sagt es sogar, wie hoch sie über dem Meere sind. 
Auch weiß es besser als du, wie warm es ist, und während es 
als Wetterprophet oft ein Schalk ist und statt Regen Sonnenschein 
ankündigt, womit es dann den Wäscherinnen einen Streich spielt, so 
täuscht es als Wärmemesser niemals. In eine kleine, oben und unten 
verschlossene Glasröhre eingesperrt, steigt es gradweise höher, je 
wärmer die Luft wird, und füllt, wenn die Wärme wieder nachläßt. 
Ohne diesen empfindlichen Wärmemesser würden wir nicht wissen, 
wie warm oder wie kalt es in anderen Ländern ist, und der Ofen¬ 
heizer eines Treibhauses würde immer in Angst sein, ob er seinen 
Blumen auch wohl die rechte Luftwärme gäbe. 
Siehe, so wird ein Gift in der Hand des verständigen Men¬ 
schen sein treuer, gehorsamer Diener. Du begreifst nun wohl, war¬ 
um sich der Mensch auch in die dunkeln Tiefen der Erde hinabläßt 
und dort im Schweiße seines Angesichts Tag und Nacht arbeitet, 
um diesen dienstbaren Geist aus seinem Verstecke an das Tageslicht 
zu beschwören. Gude. 
153. Der rohe Edelstein. 
Ein roher Edelstein lag im Sande zwischen vielen anderen ge¬ 
meinen Steinen. Ein Knabe sammelte von diesen zu seinem Spiele 
und brachte sie nach Hause zugleich mit den: Edelsteine, aber er kannte 
diesen nicht. Da sah der Vater des Knaben dem Spiele zu und 
bemerkte den rohen Edelstein und sagte zu seinem Sohne: „Gieb 
mir diesen Stein!" — Solches that der Knabe und lächelte, denn 
er dachte: „Was will der Vater mit dem Steine machen?" 
Dieser aber nahm und schliff den Stein künstlich in regelmäßige 
Flächen und Ecken, und herrlich strahlte nun der geschliffene Demant. 
„Sieh", sagte darauf der Vater, „hier ist der Stein, den du 
mir gabst." Da erstaunte der Knabe üknr des Steines Glanz und 
herrliches Funkeln und rief aus: „Mein Vater, wie vermochtest du dieses?" 
Der Vater sprach: „Ich erkannte des rohen Steines Tugend 
und verborgene Kräfte, und darum befreite ich ihn von der verhüllen¬ 
den Schlacke. Jetzt strahlt er mit seinem natürlichen Glanze." 
Danach, als der Knabe ein Jüngling geworden war, gab ihm 
der Vater den veredelten Stein als ein Sinnbild von des Lebens 
Wert und Würde. Krummacher.
	        
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