Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft. 81
Über 200 Jahre litt das deutsche Volk unter seinen unglückseligen politischen
Verhältnissen, es war meerfremd geworden, und dem Rückgange des materiellen
Lebens ist der des geistigen gefolgt.
Langsam bereitete sich derEintrittDeutschlandsindieReihe
derWelthandelsmächte vor. Der Sinn für fremdes Volkstum und fremde
Eigenart war in Deutschland immer rege, leider oft zu seinem Schaden. Durch
Männer wie Kant, Alexander von Humboldt und Karl Ritter ward Deutschland
auch das Geburtsland der wissenschaftlichen Erdkunde. Außerdem war die Kenntnis
der fremden Sprachen bei uns allmählich zu solcher Verbreitung gelangt wie
kaum anderswo. Die unmittelbare Veranlassung zur Entwicklung der überseeischen
Interessen Deutschlands aber wurde die deutsche Auswanderung, Haupt-
sächlich nach Nordamerika. Seit dem Anfange des 19. Jahrhunderts haben mehr
als 5 Millionen Deutsche sich neue Wohnsitze in der Fremde, hauptsächlich in
Nordamerika, gesucht, wo jetzt 10—11 Millionen Deutsche leben. Die Wirtschaft-
liche Einbuße, die unser Vaterland dadurch erlitten, ist groß. Anderseits aber
waren es in erster Linie die Verkehrsbeziehungen zu Amerika, die den Handel
unserer Hansestädte wieder emporbrachten. Auf der östlichen Halbkugel wurde
zuerst China, dann Indien erschlossen, und Japan öffnete zu Beginn der 60er
Jahre seine Häfen dem deutschen Verkehr. Heute vollends umspannen die von
Deutschland auslaufenden Verkehrsfäden, die jetzt auch nach Australien und der
Südsee hinüberziehen, den ganzen Erdball.
Seit Beginn der 80 er Jahre ist das Deutsche Reich in die Reihe der
Kolonialmächte eingetreten, und es beherrscht heute ein Gebiet von dem Fünf-
fachen seiner eigenen Größe (23/5 Mill. qkrn mit 12^ Mill. Einw.); es steht
somit unter den Kolonialmächten hinsichtlich des Flächeninhalts seiner Besitzungen
schon an 3. Stelle. Das in den Schutzgebieten angelegte Kapital wird auf
370 Millionen M. geschätzt und deren Ein- und Ausfuhrhandel betrug 1907
bereits 130 Millionen M. (ohne Kiautschou).
Vom Gesamtwerte des deutschen Außenhandels, der 1907 die
gewaltige Summe von 15 Milliarden M. erreicht hat, entfielen gegen 2/3
(über 9 Milliarden M.) auf den Seehandel; außerdem wird die Summe
der deutschen Kapitalsanlagen in überseeischen Ländern auf 9 Milliarden M.
geschätzt und befinden sich 16 Milliarden M. au ständischer Wertpapiere
in deutschen Händen.
In Amerika besitzen die Deutschen, besonders in Mittel- und Südamerika,
bedeutende Handelsniederlassungen mit gewaltigen, oft den Wert vieler Millionen
besitzenden Warenlagern. In Mittelamerika, Westindien, Mexiko, Venezuela u. a.
haben sich deutsche Plantagenbesitzungen zu erheblicher Wichtigkeit empor-
geschwungen. Daß der deutsche Handel in Amerika auch mehr und mehr mit
deutschem Kapital arbeitet, beweisen die in jüngster Zeit errichteten überseeischen
Banken. Ebenso wenden sich die Deutschen in den amerikanischen Ländern in
zunehmendem Maße dem Bau von Eisenbahnen zu. So werden die deutschen
Kapitalanlagen in nordamerikanischen Bahnen auf rund 400 Millionen Mark
angegeben. Viele Fabriken sind mit deutschem Kapital und vielfach sogar mit
deutschem Material eingerichtet. An der Liebig-Kompagnie, an den chilenischen