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2. Da ist z. B. eine Wiese. Harmlos und ohne besondere Künste
strecken die Gräser ihre tausend schmalen Blättchen in die Höhe. In
ihrer großen Zahl liegt eine gewisse Stärke; denn ihre Büschel stehen so
dicht, daß es anderen Gewächsen schwer gemacht wird, zwischen ihnen auf—
zukommen und ihnen das Licht wegzunehmen. Doch bietet das ihnen
keinen sicheren Schutz; manche Nebenbuhler bringen es zustande, die Gräser
zu unterdrücken.
Das tut z. B. die Primel. Wer hat sich nicht schon an der hübschen
Blattrosette erfreut, aus deren Mitte der schlanke Schaft mit den gelben
Blüten emporsproßt! Willst du wissen, was die Rosette eigentlich be—
deutet, so tritt im Frühling heran und sieh zu, welche Wirkung sie auf
ihre Umgebung ausübt. Langsam schieben sich die Blattspitzen von der
Mitte nach außen und drücken sich fest nach unten; die ersten legen sich,
sobald sie aus der Erde gekommen sind, dem Boden unmittelbar an, die
folgenden, etwas längeren, greifen über die erste Reihe hinüber und drücken
nieder, was in ihren Bereich kommt. Die ganze Rosette schmiegt sich
glatt wie ein Kuchen der Erde an, und so weit sie sich erstreckt, kann
nichts anderes aufkommen; Gräser, Moose und andere kleine Gewächse,
die den Platz mit ihr teilen möchten, müssen ersticken. So schafft die
Primel sich da, wo sie steht, einen Raum, auf dem nichts Fremdes wachsen
kann. Ihre zierliche Rosette ist ein Werkzeug zur Vergewaltigung der
Kleinen, und mit diesem erreicht sie, daß die nächsten Nachbarn ihr nicht
über den Kopf wachsen können. Über ihr bleibt ein freier Raum; sie
sichert sich ihren Anteil am Licht, ohne sich von der Erde zu erheben.
Ähnliches gilt für zahlreiche andere Kräuter, die wie die Primeln ihre
Blätter in grundständigen Rosetten ausbreiten; sie sind sämtlich kleine
Tyrannen, die ihre Rechte durch Unterdrückung der nächsten Nachbarn
wahren. Andere machen es anders. Eine Grundform entgegengesetzten
Verhaltens ist der Spargel.
Schmal und dünn, aber kräftig schießt er in Gestalt einer fast nackten
Wurzelsprosse in die Höhe; er drängt sich durch. Harte Hindernisse, wie
dicke Steine, weiß er zu umgehen, indem er sich krümmt; weiche nimmt er
mit Sturm; durch ein Kohlblatt wächst er bekanntlich quer hindurch. So
drückt er sich als dünner Streber in die Höhe, bis er über die gewöhn—
lichen Kräuter hinausgelangt ist; dann auf einmal streckt er seine Arme
aus; die Zweige breiten sich, und der Emporkömmling wiegt seine grünen
Teile über den Köpfen der Nachbarn im freien Sonnenlicht.
3. Eine junge Eiche oder Tanne breitet ihre ersten Blättchen oder den
Stern der ersten Nadeln ganz harmlos aus und muß sich im Anfang oft
kümmerlich mit andern Kleinen in das Licht des Himmels teilen. Aber
dafür hat sie auch mehr Zeit; sie muß nicht, wie der Spargel, in einem
kurzen Sommer ihre Früchte zeitigen, sondern Jahr um Jahr wachsen
ihre Kräfte, Jahr um Jahr ragt sie höher hinauf, und endlich trägt sie
siegreich eine ganze Welt von Blättern der Sonne entgegen. Wo die