455
ertönen. Das Jmproperium von Palestrina drang in unser Ohr wie der
zärtlich - schmerzliche Vorwurf des Erlösers, den er an das undankbare
Israel richtete: „Ich wollte Euch versammeln unter meine Flügel, wie die
Henne ihre Küchlein — aber Ihr habt nicht gewollt!" Die Worte des
Heilandes klangen in jenen Tönen und sprachen zu der Menschheit, die
unstät in ihrer Verblendung umherirrt und das auf Golgatha für sie ver¬
gossene Blut vergessen hat.
Bei dieser Feierlichkeit in der Sixtinischen Capelle bot Alles den An¬
blick der größten Trauer dar, mit Bezug auf den Sterbetag Jesu Christi.
Der Thron des Papstes war ohne Behänge und ohne Baldachin; die
Bänke der Cardinäle waren von ihren Teppichen entblößt; die geistlichen
Fürsten hatten ihren Siegelring abgelegt, die ihnen vorgetragenen Scepter
waren umgekehrt; ein Chorhemd von violetter Sarsche bildete ihren ganzen
Schmuck. Auch der Papst hatte einen solchen Chorrock angelegt und gleich¬
falls seinen Siegelring abgestreift; der Vater der Christenheit ertheilte
heute keinen Segen — alle Gnaden, alle Schätze des Himmelreichs sind
für diesen Tag aufgehoben und verschlossen, ein unendlicher geistiger Tod
beherrscht den Erdkreis.
Ueber die Feierlichkeiten des heiligen Samstages kann ich hinweg¬
gehen, da sie in Rom wie in jedem andern katholischen Orte abgehalten
werden. Eine Eigenthümlichkeit dieses Tages ist übrigens die Taufe der
Neubekehrten, die jedes Jahr im Lateran des heiligen Johannes statt¬
findet. Ich wohnte dieser Ceremonie bei und sah einen jüdischen Jüngling
von etwa zwanzig Jahren, der, mit einem weißen Kleide angethan, nach
Art der ersten Christen die Taufe empfing, nachdem er zuvor seinen
Glauben, aus die ihm vorgelegten Fragen antwortend, abgelegt hatte.
Um die Mitternachtsstunde erfüllte ein allgemeines Frohlocken und
Freudengetön die Hauptstadt der christlichen Welt; der Heiland hatte den
Stein vor seinem Grabe gesprengt, dem Tode die Macht genommen und
der Welt sich wieder gegeben. In allen Kirchen läuteten die Glocken, die
Artillerie auf der Engelsburg löste die Kanonen, auf den Straßen und
öffentlichen Plätzen donnerten die Böller, und lauter freudige Bewegung
war überall. Die Trauerwoche war zu Ende.
Der erste Ostertag ward mit der großartigsten und prächtigsten Cere¬
monie gefeiert. Der Papst selbst hielt in St. Peter das Hochamt, wel¬
ches das „hohepriesterliche" heißt. Es ist in der Wahrheit ein eigen-
thümliches Schauspiel, den Nachfolger Petri, der sich den „Knecht der
Knechte Gottes" nennt, zu sehen, wie er unter dem prächtigen Thron¬
himmel herumgetragen wird, von schmetternden Trompeten begrüßt, von
einer unzählbaren Menschenmenge umringt, die das große Schiff der
Kirche erfüllt; zu sehen, wie die geistliche Armee, d. h. sämmtliche religiöse
Orden in ihrer verschiedenen Ordenstracht, wie der ganze päpstliche Hof¬
staat, alle Prälaten, alle Cardinäle! in ihrem verschiedenartigen präch¬
tigen Schmuck dem Kirchenoberhaupte voranziehen. Der Papst zeigt sich