Full text: [Geschichte des Mittelalters] (Theil 2)

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ifyreg Vaterlandes schöne Werke zu schaffen, ohne an die Verherrlichung 
ihres eigenen Namens zu denken. 
Hohe Spitzbögen, mit Kronen, Kreuzen, steinernen Blumen oder Laub¬ 
werk geschmückt, schlanke Säulen von staunenswürdiger Höhe, ohne Kapi¬ 
tale, um biegsamer zu erscheinen, Pfeiler, die in kaum erreichbarer Höhe 
sich palmähnlich in zahllose Zweige spalten und am Gewölbe künstlich 
durchkreuzen, findet man in den gothischen Kirchen. Ein Dom umfängt 
die dreieinige Gottheit sammt ihren Heiligen, eine feste, dicke Mauer um¬ 
schließt die Glieder der Gemeinde, über alle wölbt sich ein Dach, wie der 
Himinel über die Erde. Die Kirche ruht auf der bedeutsamen Gestalt des 
Kreuzes, der Eingang, das Fundament gegen Abend, der Hochaltar, des 
Kreuzes Spitze gegen Morgen gerichtet. Denn im Lande des ewigen 
Morgens starb der Erlöser am Kreuze; gegen Morgen gewendet bringt 
der katholische Kultus noch täglich das Opfer des Gebetes, begeht noch 
täglich das feierliche Mahl des Gedächtnisses. Auf das Abendland gerichtet 
war des Erlösers Blick; auf diesen Fels baute er seine Kirche; darum 
ruhte das Fundament im Abend. Die Kirche als Gesellschaft war etwas 
vom Staate Gesondertes; so ist in jeder das hohe Chor vom Schiffe ge¬ 
sondert und eine kleine Kirche für sich. Draußen aber im Freien strebte 
Alles zum Himmel, nach dem Unendlichen. Es gleichen diese Kirchen mit 
ihren künstlich durchbrochenen hohen Thürmen, die so leicht und luftig 
sind, daß sie kaum die Erde zu drücken scheinen, mit ihren reich verzierten 
Portalen, mit ihren Kronen, Kreuzen, Zacken, Spitzen, Statuen, Drachen, 
Knospen und Laubwerk von Stein, einem Stoffe, der, vormals weich und 
bildsam, in freier Luft in regelmäßigen Krhstallen zum Himmel angeschossen 
ist, einer phantastisch blühenden Pflanzenwelt, die sich versteinert hat. 
DaS heitere Licht des Tages fällt durch hohe Bogenfenster, aber die 
köstlichste Glasmalerei mildert mit brennenden Farben die allzugroße Licht¬ 
masse und wirft eine Dämmerung über die inneren Verhältnisse, die da¬ 
durch erst in vollkommene Harmonie treten Die Breite der Kirche ist 
sehr gering im Verhältniß zu ihrer Länge. Dadurch aber erhält das In¬ 
nere jene schwindelnde Höhe, die fromme Gemüther mit Andacht füllt und 
in weltlich zerstreuten doch wenigstens ein Gefühl der Ehrfurcht erweckt, 
dem Niemand so leicht wird widerstehen können. 
Wenn in dem Tempel die Gemeinde sich zu frommer Andacht versam¬ 
melte, dann begleitete Musik den Gottesdienst. Karl der Große schon 
hatte kunstverständige Sänger aus Rom für den Kirchengesang berufen. 
Aus Griechenland erhielt er Orgeln, deren eherne Röhren durch Blase¬ 
bälge gefüllt wurden und abwechselnd „sanft und gewaltig wie Donner" 
ertönten. Außerdem werden viele Instrumente genannt, die schon in früher 
Zeit gebraucht wurden, wie Harfen, Geigen, kriegerische Blasinstrumente. 
Der Tonsatz aber war unvollkommen und einförmig, da man nur lange 
und kurze Noten kannte und von keiner Takteintheilung wußte. Um die
	        
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