Full text: Lehrbuch zur Kenntniß der verschiedenen Gattungen der Poesie und Prosa für das weibliche Geschlecht, besonders für höhere Töchterschulen

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sei dem Menschen natürlich, aus Händen und Füßen zu gehen; aber man 
sand das doch zu natürlich, thierisch, und erlaubte es nur Kindern in der 
Kinderstube, als Vorübung, um auf zwei Füßen gehen lernen zu können. 
Man kann es also mit der Natürlichkeit übertreiben, und sich dadurch sehr 
widrig auszeichnen. 
Das Asfectirte, Gezierte, künstlich Abgemessene, Erzwungene in dem Ton 
der Stimme, im Mienenspiel, in dem Gange, in den Bewegungen, in den 
Reden, zeigt Mangel an wahrer Bildung, ist abgeschmackt, und wird, wenn 
es einen hohen Grad erreicht, lächerlich. Es legt dem, der so Einfachheit 
und Natur verleugnet, einen großen Zwang auf. Die Natürlichkeit hingegen, 
die veredelte, ist frei, zwanglos ohne Ziererei; sie gefällt, eben weil sie na¬ 
türlich ist. 
Zu dieser Natürlichkeit bist du erzogen. Deine Miene spricht das natür¬ 
liche Gefühl aus, das dein Herz bewegt; du modelst sie nicht nach einer be¬ 
sondern Kunst, und schreibst gleichsam so eine andere Schrift auf dein Gesicht, 
als auf ihm stehen muß. Wenn es in deinem Innern lacht, so funkelt die 
Fröhlichkeit aus deinen Augen; sie ist keine erborgte, nachgemachte Heiterkeit. 
Deine Sprache hat einen natürlichen Ton, und nicht ängstlich gewählt sind 
zierliche Worte, mit denen du deine Gedanken und Gefühle bezeichnest. Du 
spielst keine gelernten Theaterrollen, und finkst nicht in Ohnmacht, wenn Un¬ 
erwartetes dich erschüttert, was man mit Ruhe ertragen muß. Es sprudelt 
bei dir nicht in Entzückungen über, wenn du dich mit einem und über einen 
freust. In deinen körperlichen Bewegungen herrscht nichts Steifes und Ge¬ 
ziertes, aber auch nichts Geimeinuatürliches, sondern die veredelte, nach den 
Gesetzen des Anstandes gebildete und gewöhnte Natur. Nicht glaube ich dir 
zu schmeicheln, wenn ich die edle Natürlichkeit an dir rühme, die selbst in der 
Anordnung deiner Kleidung und deines Putzes sichtbar ist. Nie wirst du 
jenes tadelnswerthe Natürliche, was nur Rohheit, ein verwildertes Wesen, 
eine plumpe Geradheit ist, was Alles stößt und umläuft, eines gebildeten 
und wohlerzogenen Menschen würdig finden. Nur Mißfallen kann es er¬ 
regen. Es stehen viele Jungfrauen in dem Wahne, daß sie um so mehr ge¬ 
fielen, je natürlicher sie wären; aber sie mögen bedenken, daß sie ohne die 
Kultur geistiger Kräfte, ohne zartes Schicklichkeitsgefühl, ohne Sittenbildung 
eine Zeit lang glücklich und geehrt. Doch sein Menschenbaß ließ ihm keine Ruhe. 
Ein Freund verschaffte ibm eine Pension vom Könige; darüber wurde er wüthend, 
brach mit seinem Freunde, und hielt sich für entehrt und von der ganzen Welt 
verfolgt. Dabei war er ein kindlich-gutmütbiger Mensch. Er ging einmal lange 
Zeit nicht aus dem Hause, weil sich zwei Schwalben in feinem Schlafzimmer ein 
Nest gemacht hatten; „denn," sagte er, „ich muß alle Augenblicke den unschuldigen 
Thicrchen das Fenster aufmachen, damit sie hinaus und herein können." Er lebte 
nun in Paris von Notenabschreiben sehr kärglich, und doch nahm er cs sehr übel, 
wenn man ihm mehr dafür geben wollte, als er verlangte. Zuletzt bezog dieser 
sonderbare Mann ein Landhaus in Ermcnvnville bei Paris, wo er 1778 lebens¬ 
satt, plötzlich starb.
	        
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