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zulegen". Nun, der Hauptgrund liegt freilich in der gänzlichen Ver¬
schiedenheit der Anschauungsweise des Altertums von der der Neuzeit:
aber gerade hier ist selbstverständlich die Erwägung der eigentümlichen
Beschaffenheit hellenischen Naturlebens von ganz besonderer Bedeutung.
Während bei uns die Natur jeden Winter in tiefen und iangeu
Schlaf verfällt, dann im Frühjahr plötzlich wie mit einem Ruck auf¬
wacht und so in dem jedesmal wieder für ihr Hinsterben wie ihr
Aufleben frisch empfänglichen Mitgefühl des Deutschen wehmütige
Herbst- und freudige Frühlings-Stimmungen hervorruft, beraubt im
Süden die niemals völlig absterbende Natur ihre Bewohner der
Gelegenheit, an ihren Schicksalen klagend und aufjauchzend teilzu¬
nehmen: deutsche Frühlings- und Herbst-Gefühle sind dort von Haus
aus nicht möglich.
Zudem fehlt in Hellas fast durchweg jener unmittelbar zu dem
Gemüt sprechende Reiz, den wir bei schönen Gegenden als ein uner¬
läßliches Erfordernis anzusehen gewohnt sind: ernst und rein tritt die
hohe aber einfache Größe der Form vor das betrachtende Auge. Da
ist kein Platz für die unbegrenzten Sehnfuchtsstimmungen, die sich in
uns rasch beim Anblick unserer heimischen traulichen Landschaften ent¬
wickeln; höchste Bestimmtheit und Klarheit der Vorstellung wird in
solcher Umgebung gleichsam zur Pflicht.
Wer hätte nicht mit Kopffchütteln die neue Lehre aufgenommen,
daß die Alten fast sämtliche Werke ihrer Baukunst und Bildhauerkunst
bemalt haben? Und gewiß war das Erstaunen darüber begreiflich. Aber
unsere gewichtigsten Bedenken werden leicht verschwinden, wenn wir
uns die eigentümlichen Vorzüge der lebhafteren Sonne und der reineren
Luft des Südens vergegenwärtigen. Besteigen wir z. B., um ein recht
charakteristisches Bild dieser Art zu bekommen, die Akropolis in Athen
bei Sonnenuntergang! Da liegt zur linken Hand der felsige Hpmettos
in purpurnem Violett, hinter uns der wie ein königliches Zelt auf¬
gespannte Pentelikon im tiefsten Blau, rechts die Schluchten des Parnaß
in smaragd-grünem Lichte schimmernd: unter uns erglänzt das Meer
bei der rasch wechselnden Beleuchtung der letzten Strahlen der Sonne
in der ganzen prachtvollen Fülle der Beiworte, mit denen der alte Homer
das proteusartige Wesen desselben zu erfassen sich müht. Und nun
blicken wir zurück auf die vor uns sich erhebenden herrlichen Gebäude, die
den Boden der heiligen Burg decken, die Propyläen, das Parthenon,
das Erechtheion! wie? dürfen wir es den Athenern wirklich zutrauen,
daß sie mitten in diesen Farbenreichtum hinein in schreiendstem Mißklang
ihre Tempel in kaltem blendendem Weiß gesetzt hätten?
Nein, auch diese mußten mit ähnlich reichem Farbenschmuck ge¬
ziert sein: sonst hätten sie das Auge nicht erfreut, sondern ihm wehe
gethan. Und nicht anders konnte es sein mit den Bildsäulen, die zum
besten Teile ja nicht bestimmt waren, in dunkelen Zimmern zu stehen,
sondern in freier Natur oder in offenen, von hellstem Licht umstrahlten