248. Der Gefangne.
(Jk in kleiner Schmetterling flatterte vergnügt im Garten umher und
besuchte die Blumen, die überall ihre duftigen Kelche geöffnet
hatten. Endlich sah er eine glänzende Tulpe, stürzte sich hastig in ihren
Schoß und freute sich über die Maßen ob des herrlichen Palastes. „Ja",
5 dachte er bei sich, „hier ist gut sein; so bald gehst du gewiß nicht wieder
fort." Und er tummelte sich lustig in der schwankenden Blume und
leckte bald hier, bald da von dem süßen Blütenstaube. Mittlerweile
kam der Abend heran, die Sonne sank immer tiefer, und die Tulpe
sing an, ihre Blumenkrone zu schließen; der Schmetterling aber dachte
10 nicht ans Nachhausegehen. Mehr und mehr schlossen sich mit der unter¬
gehenden Sonne die Blätter, es wurde dunkel im Palaste, und endlich
erinnerte sich unser Sommervogel, daß es Zeit zum Abschied sei. Aber
es war schon zu spät; die Tulpe hatte sich ganz geschlossen, und der
kleine Näscher war gefangen. Vergebens klopfte er mit den Flügeln
15 an die Wände seines Kerkers, niemand öffnete ihm; die Blume blieb
still und ruhig, und unser Schmetterling mußte sich in sein Schicksal
fügen. Ach, wie lange dauerte ihm die kurze Frühlingsnacht! Wenn
ein Käfer vorbeischwirrte oder ein Nachtfalter, wurde er um so unge¬
duldiger und fing an, heftiger zu klopfen; aber niemand erlöste ihn. Nun
20 wollte ihm kein Blütenstaub mehr schmecken, und er seufzte nur immer:
„Ach, wäre ich doch draußen bei meinen übrigen GespielenI"
Als nun am andern Morgen die Sonne wieder aufging und es hell
wurde, da begann auch die Tulpe allmählich ihre Blume zu öffnen,
und durch das kleine Fenster konnte die Sonne wieder hineinblinzeln
25 und den armen Gefangnen aus seinem unruhigen Schlummer erwecken.
Ach, wie freute er sich! Eilends kroch er bis zu einer kleinen Luke;
aber noch war sie zu eng, und er konnte nur die Fühlhörner Hinaus¬
sirecken und sich an dem frischen Morgenwind laben. Mittlerweile stieg
jedoch die Sonne immer höher, und das Fensterchen wurde bald so weit,
30 daß unser Schmetterling schon Hinausschauen konnte.
Aber er zog schnell das Köpfchen zurück, denn dicht neben seinem
Gefängnis stand Agnes, des Gärtners kleine Tochter, die beschäftigt war,
einen Blumenstrauß zu pflücken. Sie bückte sich näher zur Tulpe,
betrachtete sie mit freudigem Gesicht uud bemerkte durch die kleine Öffnung
35 alsbald auch unsern Schmetterling. „Nein", sagte sie, „das ist doch
niedlich, das muß mein Bruder sehen." Und mit diesen Worten war
auch die Tulpe geknickt und zu den andern Blumen gelegt. Wie
erschrak unser Schmetterling! „Ach", seufzte er, „wie wird mir's