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Zweite Abteilung. Epische Poesie.
6. „Stirb wie ein Leue, adelig,
In seiner Brust das Bleigeschoß;
H slirb nicht, wie ein zahnlos Roß,
Das zaunpelt vor des Henkers Stich
Ha, seinem Auge kehrt der Strahll
Stirb, alter Freund, stirb wie ein
Mann!“
Der Kranke zuckt, zuckt noch einmal,
Und „Wasser! Wasser!“ stöhnt er dann.
8. „Mein Kommandant,“ spricht
der Ulan,
Grimmig verschämt, „ich dachte nach,
Wie ich blessiert am Strauche lag,
Der General mir nebenan,
Und wie er mir die Flasche bot,
Selbst dürstend in dem Sonnenbrand,
Und sprach: ‚Du hah die schlimmste
ot
Dran dacht' ich nur, mein Kom—
mandant.“
9. Der Kranke horcht, durch sein
Gesicht
Zieht ein verwittert Lächeln, dann
Schaut fest den Veteran er an.
Die Seele, der Viktoria nicht,
Nicht Fürstenwort gelost den Fluch,
Auf einem Tropfen Menschlichkeit
Schwimmt mit dem letzten Atemzug
Sie lächelnd in die Ewigkeit.
7. Leer ist die Flasche — „Wache
dort,
He, Wache, du bist abgelöst!
Schau, wo ans Haus das Gitter stößt,
Lauf, Wache, lauf zum Borne fort!“ —
's ist auch ein grauer Knasterbart
Und strauchelt wie ein Dromedar —
„Nur schnell, die Sohlen nicht ge—
spart!
Was, alter Bursche, Thränen gar?“
Wenn schon das Bewußtsein eines einzigen Liebeswerkes die finstere Todesstunde
so freundlich erxhellt, wie leicht und süß u muß der nen aus der Zeillichkeit
Henjenigen werden die ihr ganzes Leben dem Dienste edler geweiht!
144. Der Brief aus der Heimat.
Annette v. Droste⸗ülshoff.
1. Sie saß am Fensterrand im Morgenlicht
Und starrte in das aufgeschlagne Buch,
Die Zeilen zählte sie und wußt' es nicht,
Ach weithin, weithin der Gedanken Flug!
Was sind so ängstlich ihre nächt'gen Träume?
Was scheint die Sonne durch so öde Räume?
— Auch heute kam kein Brief, auch heute nicht.
2. Seit Wochen weckte sie der Lampe Schein,
Hat bebend an der Stiege sie gelauscht;
Wenn plötzlich am Gemäuer knackt der Schrein,
Ein Fensterladen auf im Winde rauscht, —
Es kommt, es naht, die Sorgen sind geendet!
Sie hat gefragt, sie hat sich abgewendet
Und schloß sich dann in ihre Kammer ein.
3. Kein Lebenszeichen von der liebsten Hand,
Von jener, die sie sorglich hat gelenkt,
Als sie zum erstenmal zu festem Stand
Die zarten Kinderfüßchen hat gesenkt;
Versprengter Tropfen von der Quelle Rande,
Harrt sie vergebens in dem fremden Lande;
Die Tage schleichen hin, die Woche schwand.