Full text: Grundlage beim Unterricht in der Erdbeschreibung (Bd. 1)

66 
Auch einmal — es war mitten im Sommer, und der Flachs blühte so 
blau, als wäre ein Stück Himmel auf die Erde gesunken, — rüstete das 
Fräulein von Iürgenschlotz wieder zur Jagd, wiewohl dazu mitten im 
Sommer gar keine Zeit war. In sausendem Galopp ging's über die Auen 
und in den Wald hinein. Dort banden sie ihre Pferde an die Bäume und 
hielten Rast, bis der Abend, der schon von den fernen Bergen herabstieg, 
das Gelände völlig deckte. Dann kam die Nacht mit ihrem Silberschein, 
und die Bäume und Blumen dufteten hinein in den milden Glanz. 
Da bestieg Wild-Ellen ihr Rotz, die Knappen schwangen sich ebenfalls 
in die Sättel, und langsam ritten sie durch den nachtstillen Hag*, die weitze 
Hirschkuh zu erspähen, die seit kurzem in den Wäldern um Iürgenschlotz 
wohnte. Die trat nachts, wenn alles traumverloren war, auf eine der 
betauten Auen, um dort zu grasen. Von dieser Hirschkuh gingen aller¬ 
hand Gerüchte unter den Leuten. Der eine wollte sie gesehen haben 
ganz dicht vor seinen Augen und behauptete, sie habe nicht ein weitzes 
Fell, sondern eins aus Silber. Der andere, dem sie auch zufällig erschienen 
war, sagte wieder: „Nein, ihr Fell ist so wie das einer anderen weitzen 
Hirschkuh auch, aber ihre Hufe sind aus Gold!" 
Diese weitze Hinde nun wollte man erlauern, aus dem Schutze des 
Waldes jagen und draußen im freien Feld grausam zu Tode hetzen. 
Lange waren sie schweigsam durch den Tann geritten, an allen 
Schlägen und versteckten Waldwiesen vorüber, da erschallte plötzlich aus 
dichtem Gebüsch heraus das Horn des Jägers. Lautes Rufen tönte, die 
Hunde schlugen an, und da die Stämme des Hochwaldes an jener Stelle 
sich nur noch vereinzelt aus dem Heideboden erhoben, ging's in wildem 
Jagen hinter der weitzen Hirschkuh drein; denn die war's, die des eine» 
Jägers Auge tatsächlich erspäht hatte. 
Mitten aus dem niederen Tannicht, durch das die Jagd hinter dem 
seltenen Wilde dreinfuhr, erhob sich aber ein gewaltiger Felsblock. In dem 
satz Frau Holde in jener Nacht zur Rast, denn um die Zeit, da der Flachs 
in Blüte steht, wandelte sie nachts wie in den grauen Zeilen der alten 
Deutschen noch immer über die Felder und segnete den blühenden Lein. 
Verwundert vernahm sie das Jagen der Rosse und das Gekläff der 
Meute*. Die wilde Jagd selbst war's nicht, denn die fährt um diese Zeit 
nicht durch die Lüfte, und übrigens kannte sie die ganz genau. Nicht selten 
hatte sie vor alten Zeiten den Wuotan* an der Spitze der tollen Fahrt 
über die nächtlichen Wälder begleitet. 
Bald verhallte das Gestampf der eilenden Rosse, und Frau Holde trat
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.