Hort i li.
Abriß der Lehre von den Formen und Arten der deutschen Dichtung.
Ein leitung.
Alle Kunst hat die Darstellung des Schönen zur Aufgabe.
Das Schöne*) aber ist die Einheit von Idee und Form, will
sagen: das harmonische Gleichgewicht und die innige Durchdringung des Gei¬
stigen und Sinnlichen, wodurch dem gebildeten Geschmacke Genuß
bereitet wird.
Das höchste Geistige, die höchste Idee, ist Gott. Ju ihr sind ge¬
gründet und gipfeln alle Ideen, die in der Natur sowie im Menschenleben sich
offenbaren unti, von der Vernunft mit Hülfe der Phantasie — dem Dichtungs¬
vermögen im weitesten Sinne des Wortes — als Ideale erfaßt, durch den
Künstler zu individueller Gestaltung gebracht werden.
Völlig eins in diesem Streben unterscheiden sich die Künste, genauer:
die „schönen" Künste, lediglich durch die dreifache Weise, in welcher ihre
Erzeugnisse uns zum Bewußtsein kommen, bezüglich durch das Material ihrer
D a r st e l l u n g s m i t t e l.
So wirken die Architectur, Skulptur und Malerkunst durch Gestalten,
vom Auge aufgefaßt, auf die Anschauung: die Musik dagegen wirkt durch
Töne für das Ohr auf die Empfindung, während die Poesie oder Dichl-
kunst, die ganze ideal gesetzte Sinnlichkeit — die Phantasie in der eigentlichsten
Bedeutung des Wortes — erregt, und geistige Anschauungen und Empfin¬
dungen zugleich in uns hervorruft Und eben deshalb ist sie die Blüte aller
Kunst: ihr eigentlicher Gegenstand aber immer und überall der Mensch und das
menschliche Leben im ganzen Umfange seiner gemütlichen Beziehungen
zu Gott und zur Welt. Dazu kommt, daß ihr Darstellungsmittel, die
Sprache, das ausgiebigste und feinste, flüssigste und geistigste Material ist,
dessen ein Künstler sich bedienen kann, weitaus vor anderen Stoffen geeignet, den
ganzen Reichtum des Innern, sowohl nach der Seite der Empfindung als des
geistigen Selbstbewußtseins, und zwar nicht bloß in Beziehung auf sich selbst,
sondern auch auf die gesamte, den Menschen umgebende unsichtbare und sicht¬
bare Welt zum Ausdrucke zu bringen.
Hiermit aber haben wir schon in Kürze das geistige Wesen und den
Begriff der Poesie, wenn auch nur im allgemeinen, gekennzeichnet, und fü¬
gen nur noch die Bemerkung hinzu, daß ursprünglich jedes Wort, mit allei¬
niger Ausnahme der Ohr und Gefühl zugleich beleidigenden gemeinen Ausdrücke,
poetisch, d h. für die Dichtung geeignet ist, obschon allerdings ihr Gebrauch,
da sie sich in ihrer poetischen Bedeutung und Wirkung merklich unter einander
abstufen, von der Art oder Gattung abhängt, worin man dichtet.
*) Aristo leies: „Das Schöne ist die Einheit in tur Mannigfaltigkeit:" Göthe:
„Die Erscheinung des gesetzmäßig Lebendigen in seiner größten Vollkommenheit." —