VI. Aus Geschichte und Sage.
129. Das Märchen vom Sänger Orpheus.
Qotthold Klee.
Es war einmal ein Sänger, der hieß Orpheus und konnte so
lieblich singen und die Harfe dazu schlagen, daß nicht nur die
Menschen, die es hörten, wie bezaubert waren, sondern auch die
Vögel in den Lüften, die Fische im Wasser und die Tiere des Waldes
herbeikamen, um zu lauschen. Orpheus hatte sich mit einem hold¬
seligen Mägdlein vermählt, des Name war Eurydice. Die beiden
hatten sich herzlich lieb und waren sehr glücklich zusammen. Aber
ihr Glück sollte keine lange Dauer haben. Denn kaum waren sie
ein paar Wochen vermählt, so starb die junge Frau. Als sie einst
mit vielen anderen Mädchen und Frauen, ihren Gespielinnen, auf
einer grünen Wiese fröhlich daherhüpfte, da trat sie auf eine giftige
Schlange, die im Grase versteckt gelegen hatte und sie in die zarte
Ferse stach. Eurydice erbleichte und sank ihren erschrockenen
Freundinnen sterbend in die Arme. Als dem Sänger sein geliebtes
Weib tot ins Haus getragen wurde, da wäre er fast auch gestorben
vor bitterlichem Leid, und er hätte den Tod willkommen geheißen;
aber es sollte nicht so sein. Er blieb am Leben und weinte und
klagte nun unaufhörlich um die verlorene Gattin.
Endlich konnte er es nicht länger ertragen und faßte einen
Entschluß, wie ihn noch kein Mensch gefaßt hatte: er wollte nämlich
unter die Erde in das Reich der Toten hinabsteigen und den König
der Unterwelt, Hades, so lange mit Bitten und flehenden Liedern