Full text: [Teil 5 = 7. - 9. Schulj] (Teil 5 = 7. - 9. Schulj)

Ausblick auf Odysseus' andere Abenteuer bis zu seiner Heimker. 
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zu umfangen; dreimal nahete er ihr, und dreimal schwand's43) ihm unter 
den Armen, wie ein Schatten oder ein Traum dahin. 
Nun sah Odysseus noch viele Schatten von Männern und Frauen 
der Vorzeit und hielt Zwiesprach47) mit ihnen. 
Er sah Minos48), Zeus' edelen Sohn, wie er, ein goldenes Zepter 
in der Hand, dasaß und den Toten Recht sprach; sie aber saßen und standen 
um den Fürsten in dem weitthorigen Hause des Hades und fragten um 
Rechtssprüche. 
Er gewahrte den Schatten des riesigen Orion 49), wie er Wild vor 
sich herjagte über die Asphödeloswiese50), das er selber früher in den ein¬ 
samen Bergen erlegt hatte, eine Keule, ganz von Erz und unzerbrechlich, in 
der Hand34). _ 
Auch Tityus32) sah er, der Erde erlauchten Sohn, wie er auf dem 
Boden lag, einen Raum von neun Ruten bedeckend; zwei Geier saßen neben 
ihm, und in die Netzhaut eindringend, zerhackten sie ihm die Leber, ohne 
daß er sich ihrer mit den Armen erwehren konnte. 
Auch Tantälus 53) sah er in seiner schweren Pein. Er stand in einem 
See, der ihm bis zum Kinne reichte. Durstig heischte34) er Wasser und 
konnte doch nicht zu trinken bekommen; denn sobald sich der Greis bückte, 
nach einem Trünke begierig, verschwand sogleich das Wasser wie hinweg¬ 
geschluckt, und der dunkle Boden zu seinen Füßen wurde sichtbar. Ihm zu 
Häupten33) ließen hochbelaubte Bäume ihre Früchte herabhängen, 
Birn- und Granatbäume, Apfelbäume mit herrlicher Frucht, süße Feigen- 
und üppige Ölbäume; aber so oft der Greis die Hände ausstreckte, nach 
ihnen zu greifen, riß sie sogleich ein Windstoß empor zu den dunklen 
Wolken. 
Auch Sisyphus33) sah er in seiner harten Pein. Der faßte mit 
beiden Händen einen ungeheuern Steinblock und wälzte ihn, mit Händen 
und Füßen angestemmt, einen Hügel hinauf; aber wenn er ihn über den 
Gipfel wegstoßen wollte, drängte ihn sogleich seine Wucht zurück, und 
wieder zur Ebene hinunter entrollte der tückische Steinblock. Aber er wälzte 
ihn immer wieder hinauf mit aller Kraft, und der Schweiß troff37) ihm 
von den Gliedern, und Staub wirbelte über seinem Haupte empor. 
Nach ihm gewahrte er den gewaltigen Herakles38), seinen Schatten 
nämlich; denn er selbst labt sich in Freuden beim Mahle unter den un¬ 
sterblichen Göttern und hat Hebe39) zur Gattin. Um ihm her erhoben 
die Toten ein Geschrillt), wie gescheuchteMaubvögel; er aber gieng ein¬ 
her, furchtbar wie die schwarze Nacht, den Bogen in der Hand, den Pfeil 
an der Sehne, mit drohendem Blick, als wollte er jeden Augenblick schießen. 
Um die Brust trug er ein mächtiges Wehrgehenk34), einen goldenen Riemen, 
auf dem Wundergebilde32) angebracht waren: Bären, Wildschweine und 
Löwen mit funkelnden Augen, Kämpfe und Schlachten, Mord und Männer¬ 
gemetzel. 
Aber nicht lange weilte Odysseus im Reiche der Toten; unzählige 
Scharen drängten sich heran mit so grauenvollem Getön, daß ihn bleiches 
Entsetzen ergriff und er fürchtete, daß die hehre Persephone das Haupt der 
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