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Rber dieses Zugeständnis darf uns nicht verhindern, zu erkennen,
daß viele Mädchen tatsächlich aufgebraucht werden, daß viele über¬
haupt verlernen, sich ein Recht auf Zelbstbehauptung zuzuerkennen.
Wer kennt nicht die Töchter kinderreicher Familien, die keinen Beruf
erlernen dürfen, weil sie die überlastete Mutter erleichtern müssen,' und
die dann später — gealtert, kraftlos, ohne Kenntnisse — sich einen wenig
standesgemäßen Verdienst suchen müssen, während ihre Rrbeit im Hause
vielleicht dazu beigetragen hat, den Brüdern die Offiziers- oder Be¬
amtenlaufbahn zu ermöglichen. Und die Mädchen der wohlhabenden
Kreise, die es nach einem befriedigenden Lebensinhalt verlangt, werden
nur allzuoft nicht aus einer solchen Notwendigkeit heraus, sondern nur
deshalb von jeder Betätigung zurückgehalten, weil ihre Mütter sich den
Wunsch nicht versagen wollen, die erwachsene Tochter gelegentlich als
Begleiterin bei einer Besorgung oder einem Besuch bei sich zu haben.
Ts gibt solche Mädchen, die Jahre um Jahre „zur Disposition" stehen,
ohne je zu einer Leistung einberufen zu werden. Ihnen sollte man das
Wort Zchleiermachers ans herz legen: „Rein Mensch soll nur Mittel
zum Zweck für andere sein. Jeder Mensch muß — wenn er daneben
auch als dienendes Glied für andere Zwecke fungiert, zugleich als Zelbst-
Zweck, als Heiligtum für sich anerkannt werden."
Die Harmonie zwischen Zelbstbehauptung und Rufopferung liegt
schließlich darin, daß wir ebensowenig für unsere eigene Entwicklung,
für unser Glück das anderer opfern, als für deren Glück unb Ent¬
wicklung auf das unsere verzichten. Wo unser Wohl und Wehe mit
dem anderer verknüpft ist, müssen wir das richtige Verhältnis zwischen
dem eigenen Wohl und dem des anderen herzustellen versuchen. Und
erst wenn wir dieses Verhältnis auf der Goldwage geprüft haben, dann
erst können wir uns in jedem einzelnen Falle für die Berechtigung der
belbstbehauptung und die Pflicht der Lelbstverleugnung entscheiden. Ellen
lkey, die überzeugte Individualistin, hat das selbst einmal ausgesprochen
und hinzugefügt, daß es keine Regel geben könne, die unsere Wahl¬
freiheit hindern oder uns der Notwendigkeit einer solchen Prüfung und
Wahl überheben könnte.
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In ganz anderer, für das Gesellschaftsleben viel gefahrvollerer Form
offenbart sich uns dieser Konflikt bei einem Kreise junger Mädchen, die
sich selbst in so starkem Maße behaupten, daß sie von Pflichterfüllung
und Gemeinsinn nichts wissen wollen. Das verlangen nach Wachstum
und vielleicht auch eine Erziehung zum Genußleben, zum Egoismus
führt sie dazu, auf die Beschäftigung mit dem „Ich", mit dem „heil