Full text: [Geschichte des Mittelalters] (Theil 2)

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kostbare Schaale, deren sich der Herr und Heiland bei dem letzten Abend¬ 
mahl bedient hat und in welche Joseph von Arimathia das Blut des 
Herrn aufsing. Das Heiligthum wurde aufbewahrt in einem wunderbaren 
Tempel, dessen Säulen von Gold, mit Juwelen geschmückt, dessen Decken¬ 
gewölbe blauer Saphir, dessen Fußboden durchsichtiger Krystall waren. Es 
schloß dieses Gefäß, welches die Welterlösung sichtlich darstellte, die Fülle 
aller Güter in sich. „Wer es anschauen durfte, dessen Farbe ward nicht 
bleich und dessen Haar ward nicht grau zweihundert Jahre lang. Pfleger 
und Hüter dieses Schatzes zu sein, war die höchste Würde der Menschheit 
und Ritterlichkeit. Die Irr- und Wanderfahrten des Ritters Parzival, 
bis er als vollendete Blüthe menschlicher und ritterlicher Tugend König 
im Heiligthum des Graal wird, ist der Gegenstand des Gedichtes. 
„Der Name derer, die ernannt 
Zum Graale sind, wird so bekannt: 
Am Stein, an seines Randes Rnnd, 
Erscheint eine Schrift, die deutlich kund 
Geschlecht und Namen dessen thut, 
Den zn erwählen der Graal geruht. 
Niemand vermag der Schrift Buchstaben, 
Eh' sie gelesen, vom Stein zu schaben; 
Sie vergeht jedoch zur selben Frist, 
Sobald der Name gelesen ist. 
Es kommen alle dahin als Kind, 
Die jetzt Erwachs'ne beim Graale sind; 
Und wohl der Mutter, die geboren 
Das Kind, das sich der Graal erkoren! 
Denn dessen freu'n sich alle gleich 
Ihre Kinder zu senden, arm und reich. 
Die aus nahen und fernen Landen 
In Montsalvas sich zusammenfauden 
Und zu dem Graaldienst sind geweiht, 
Von Todtsünden bleiben sie befreit. 
Vom Himmel ist ihr Lohn gewährt 
Und wenn ihr letzter Tag erschienen 
Auf Erden hier, wird droben ihnen 
Der Seele letzter Wunsch bescheert." 
Zwei Bruchstücke von großer Schönheit, Titnrel und Wilhelm von 
Oranse, sind gleichfalls Werke des Wolfram von Eschenbach. Während 
die Poesien dieses Dichters einen durchaus ernsten, religiösen Grundton 
haben, schildert das Weltkind, Gottfried von Straß bürg, mit den 
glänzendsten Farben irdischen Genusses, in gewandter und zierlicher Form, 
die Liebesabenteuer von Tristan und Isolde. Leidenschaftliches Feuer 
und Anmuth der Darstellung machen diese Dichtung zu einem Meister¬ 
werke, freilich der leichtfertigsten Art, welches der Nachahmer nur zu viele
	        
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