Full text: [Teil 2 = Sexta, [Schülerband]] (Teil 2 = Sexta, [Schülerband])

Pröhle: Hans von Drosfen. Enslin: Der Neuner in der Wetterfahne. 113 
der alten Reichsstadt abgetragen wurden, ließ man allein diesen 
Turm, seiner Schönheit wegen, stehen. Ganz oben auf der 
mittelsten und höchsten der fünf Turmspitzen ist eine Wetter¬ 
fahne; wenn man die recht genau ansieht, so erblickt man 
etwas, an dessen Ursprung sich nachfolgende Sage anknüpft. 
War nämlich ein Walddieb, Hans Winkelsee benannt, der 
trieb sein Wesen in den Frankfurter Wäldern, ließ sich aber 
nicht sahen, so oft auch die Häscher Jagd auf ihn machten. 
Endlich aber gelang’s ihnen doch, und Hans Winkelsee ward 
in sichern Gewahrsam gebracht, nämlich in das Gefängnis, das 
oben in dem Eschenheimer Turm für Leute seines Gelichters 
wartete. Das war für den Wildschützen, der gewöhnt war, 
immer in der freien Natur umherzustreifen, ein schlechtes Ver¬ 
gnügen, absonderlich auch schon deshalb, weil, wenn er ja erlöst 
werden sollte aus seiner luftigen Behausung, ihm eine nur noch 
luftigere bereitet würde, nämlich der Galgen. 
Neun Tage und neun Nächte hatte er schon gesessen und 
wünschte wohl, der hohe Rat der freien Stadt möchte, anstatt 
sich Kosten und Sorgen zu machen wegen seiner Erhöhung 
in die Lüfte, ihm lieber die Hälfte des Geldes schenken zu 
einem Strang, an dem er sich nach Belieben irgendwo aufknüpfen 
lassen könne; denn so wär’s billiger und müheloser. 
Da trat der Kerkermeister herein. 
„Nun, Hänsel, wie steht’s? Jetzt wird’s bald ans Zappeln 
gehn!“ 
„Na, das ist aber mehr als Tierquälerei! Ich hab’ doch 
die Hirsche flugs totgeschossen, und mich will man an dem 
vermaledeiten Galgen baumeln lassen! Wie lang mag’s denn 
noch dauern?“ 
„Nu, nu, es wird früh genug kommen! Könnt wohl immer 
noch ein paar Nächte hier schlafen!“ 
„Ja, schlafen, wenn die verteufelte Wetterfahne da droben 
auf dem Turme nicht wär’! Aber die hat ja immer so toll 
gewirbelt und gesaust, geschnarrt und geknarrt, daß mir aller 
Schlaf vergangen ist in diesem Eulennest! Ich wollte einen 
Meisterschuß tun, wenn sie mich heute laufen ließen! Zum 
Andenken an die neun Nächte, die ich hier hause, wollt’ ich den 
schönsten Neuner in das Wetterblech schießen, versteht sich 
mit neun Kugeln.“ 
„Was, Hänsel, das wolltet Ihr?“ 
„Na, warum denn nicht! Eine Kleinigkeit für einen Schützen 
wie ich!“ 
Paldamus, Deutsches Lesebuch. Ausg. C. Sexta. 
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