Full text: Germanisches Sagen- und Märchenbuch

König Ortnit. 
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schäumte vor Wut und warf einen centnerschweren Stein gegen den 
Zwerg, der aber plötzlich verschwunden war und unsichtbar dem Heiden 
ein paar kräftige Streiche auf die Wangen gab, so daß er laut auf¬ 
brüllte vor Schmerz und Wut. Nachdem Alberich von seiner Botschaft 
Bericht erstattet hatte, führte er in der Nacht auf den heimlich los¬ 
geketteten feindlichen Barken Ortnits Gefolgefchaft ans Land, und ehe 
noch der Morgen graute, standen 80 000 wohlgerüstete Helden vor der 
Stabt zum Sturm bereit. Alias ergriff die gewaltige Sturmfahne mit 
einem goldenen Löwen als Zeichen, Ortnit zerhieb mit seinem Schwerte 
Rosen das starke Stadtthor, und hinein stürmten die Scharen. Doch 
die Heiden waren tapfere Männer, und ein blutiger Kamps erhob sich. 
Schon waren fünftausend der Mannen des Alias gefallen und dieser 
selbst durch einen Keulenschlag zu Boden geschmettert, da brach sich 
Ortnit ungestüm zu ihm Bahn, und bald vermochte sich Alias wieder 
zu erheben und wütete nun entsetzlich. Alles, selbst Kinder und Wehr¬ 
lose, hieb er nieder; dann zerschlug er die Bildsäulen der heidnischen 
Götter und ruhte nicht eher, als bis die Heiden sich zur Stadt hinaus 
retteten und das Löwenbanner ausgepflanzt war. Nachdem die Ver- 
wundeten auf die Schiffe gebracht waren, pflegten die ermüdeten Helden 
der Ruhe, um sich fiir den nächsten Tag zum Hauptsturme auf Montabur 
zu kräftigen. 
Am frühen Morgen versammelte Ortnit fein Heer und feuerte es 
in mutigen Worten au. Alsdann ergriff Alberich die Sturmsahne, 
schwang sich auf ein Roß und ritt ungesehen dem staunenden Heere 
voran, das, sich bekreuzigend, ries: „Getrost, ein Engel vom Himmel 
selbst führt uns zum Kampf!" Nicht weit von der Burg machte das 
Heer Halt, und sogleich begann ein gewaltiges Schießen und Werfen 
aus Schleudermaschineu auf die Christen, so daß Ortnit schon bange 
wurde. Da plötzlich wurden von unsichtbarer Hand die gefährlichen 
Maschinen von der Mauer in den Graben hinabgestürzt, infolgedessen sich 
der Heiden banges Entsetzen bemächtigte, ja einzelne schon zur Übergabe 
rieten. Machorel aber tobte in wildem Zorn und schwur, nimmermehr 
seine Tochter dem Christenkönige zu geben. „Was tobst du so?" ließ 
sich da Plötzlich Alberichs Stinime hören, „mir müßtest du sie geben, 
wenn ich wollte, ja dir selbst könnte ich das Leben nehmen!" Damit 
faßte er Machorel mit aller Kraft in den Bart und zog ihn hin und 
her, so daß er vor Wut heulte, uud obgleich viele Hände nach dem 
Zwerge griffen, niemand vermochte den Unsichtbaren zu fassen ; er stand 
bereits wieder bei Ortnit und riet ihm, sich aus baldigen, blutigen Kamps 
gerüstet zu halten. 
Germanisches Sagen- und Märchenbuch. 
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