Full text: [Bd. 5 = Kl. 5, 6. Schulj, [Schülerband]] (Bd. 5 = Kl. 5, 6. Schulj, [Schülerband])

Sie war aber zugedeckt, und der Diener wußte selbst nicht, was darin 
lag, und kein Mensch wußte es; denn der König deckte sie nicht eher 
auf und aß nicht davon, bis er ganz allein war. Das hatte schon 
lange Zeit gedauert, da überkam eines Tages den Diener, der die 
Schüssel wieder wegtrug, die Neugierde, daß er nicht widerstehen konnte, 
sondern die Schüssel in seine Kammer brachte. Als er die Tür sorg¬ 
fältig verschlossen hatte, hob er den Deckel auf, und da sah er, daß 
eine weiße Schlange darin lag. Bei ihrem Anblick konnte er die Lust 
nicht zurückhalten, sie zu kosten; er schnitt ein Stückchen davon ab 
und steckte es in den Mund. Kaum aber hatte es seine Zunge berührt, 
so hörte er vor seinem Fenster ein seltsames Gewisper von feinen 
Stimmen. Er ging und horchte; da merkte er, daß es die Sperlinge 
waren, die miteinander sprachen und sich allerlei erzählten, was sie 
im Felde und Walde gesehen hatten. Der Genuß der Schlange hatte 
ihm die Fähigkeit verliehen, die Sprache der Tiere zu verstehen. 
Nun trug es sich zu, daß gerade an diesem Tage der Königin 
ihr schönster Ring fortkam und auf den vertrauten Diener, der überall 
Zugang hatte, der Verdacht fiel, er habe ihn gestohlen. Der König 
ließ ihn vor sich kommen und drohte ihm unter heftigen Scheltwörter:, 
wenn er bis morgen den Täter nicht zu nennen wüßte, so sollte er 
dafür angesehen und gerichtet werden. Es half nichts, daß er seine 
Unschuld beteuerte, er ward mit keinem bessern Bescheid entlassen. 
In seiner Unruhe und Angst ging er hinab auf den Hos und bedachte, 
wie er sich aus seiner Not helfen könne. Da saßen die Enten an 
einem fließenden Wasser friedlich nebeneinander und ruhten, sie putzten 
sich mit ihren Schnäbeln glatt und hielten ein vertrauliches Gespräch. 
Der Diener blieb stehen und hörte ihnen zu. Sie erzählten sich, wo 
sie heute morgen all herumgewackelt wären, und was für gutes Futter 
sie gefunden hätten; da sagte eine verdrießlich: „Mir liegt etwas 
im Magen, ich habe einen Ring, der unter der Königin Fenster lag, 
in der Hast mit hinuntergeschluckt." Da packte sie der Diener gleich 
beim Kragen, trug sie in die Küche nn<d sprach zum Koch: „Schlachte 
doch diese ab, sie ist wohlgenährt." — „Ja," sagte der Koch und 
wog sie in der Hand, „die hat keine Mühe gescheut, sich zu mästen 
und schon lange darauf gewartet, gebraten zu werden." Er schnitt 
ihr den Hals ab, und als sie ausgenommen ward, fand sich der Ring 
der Königin in ihrem Magen. Der Diener konnte nun leicht vor dem 
Könige seine Unschuld beweisen, und da dieser sein Unrecht wieder 
gutmachen wollte, erlaubte er ihm, sich eine Gnade auszubitten, und 
versprach ihm die größte Ehrenstelle, die er sich an seinem Hofe 
wünschte. 
Der Diener schlug alles aus und bat nur um ein Pferd und 
Reisegeld; denn er hatte Lust, die Welt zu sehen und eine Weile darin
	        
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