92. Die MauS und der Löwe.
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einzelnen Felsenmassen schäumend und brausend und eine Wolke von Dampf aus¬
sprühend, in die sprudelnde Tiefe. Es hat etwas Sinnebetäubendes, das unauf¬
hörliche Sprühen, Dampfen und Stürzen, das ohne Ende sich drängende Fluthen
und Zerstäuben der Gewässer zu sehen, das unaufhörliche Brausen und Donnern
zu hören; selbst nach längerer Betrachtung blieb meine Seele nicht ohne Auf¬
regung. Auf leichtem Nachen ließ ich mich hinüberfahren, bis zu dem Fuße des
Berges, auf welchem das Schloß Laufen liegt; ich betrat das hölzerne Gerüst,
das an den Rand oder vielmehr in den Wasserfall selbst hineingebaut ist, und
der Eindruck, den ich hier empfing, läßt sich durch keine Worte wiedergeben.
Das Gerüst bebte unter meinen Füßen, die Felsen schienen zu beben, der feine
Wasserdunst durchnäßte mich. Ich stand über eine halbe Stunde an dieser Stelle;
wie könnte man die alle Gedanken übersteigende Schnelligkeit schildern, mit welcher
unaufhörliche Fluthen herabstürzen, wie das Getöse, das Zischen, Brausen, laute
Krachen, die tausend verschiedenen Töne der sich überfluthenden Wassermassen!
Stumm und anbetend steht der Mensch neben diesem Wunderwerke des Schöpfers.
Schon eine halbe Stunde vor dem Fall, nachdem der Rhein unter der Brücke
bei Schafshausen hingeströmt ist, ist das Bett des Rheins so abschüssig und der
Fluß so reißend, daß er nicht befahren werden kann. Ich ging des andern Tages
am Ufer entlang und betrachtete die zahllosen, aus der Fluth hervorragenden
Klippen, durch welche sich strudelnd und schäumend die Wellen hindurchzwangen.
Als mich der leichte Nachen wieder an das andere Ufer gebracht hatte,
dämmerte es schon; ich setzte mich auf die Ruhebank unter einem Baume und
betrachtete nochmals die ganze Breite und alle Abtheilungen des Falles. Der Mond
stieg am Himmel auf und warf seine Strahlen auf die leuchtende und schimmernde
Wasserstuth. Sein Licht brach sich tausendfach in den aufsprühenden Perlen, die
weißen Punkten ähnlich erschienen. Sein Bild wiegte sich schaukelnd auf den ab-
und niederwallenden Wellen; ich feierte einen der glücklichsten Abende meines Lebens
auf dieser Stelle. 8 r. Hoffman».
92. Die Mans und der Löwe.
Ein Löwe schlief in seiner Höhle, und um ihn her spielte eine lustige
Mäuseschaar. Eine derselben kroch eben auf einen hervorstehenden Felsen, fiel
herab und erweckte den Löwen, der sie mit seiner gewaltigen Tatze festhielt.
,,Ach," bat sie, „sei doch großmüthig gegen mich armes, unbedeutendes Geschöpf!
Ich habe dich nicht beleidigen wollen, ich habe nur einen Fehltritt gethan und
bin von dem Felsen herabgefallen. Was kann dir mein Tod nützen? Schenke
mir das Leben und ich will dir zeitlebens dankbar sein!" — „Geh' hin," sagte
der Löwe großmüthig und ließ das Mäuschen springen. Bei sich aber lachte er
und sprach: „Dankbar sein! Nun, das möchte ich doch sehen, wie ein Mäuschen
sich einem Löwen dankbar bezeigen könnte!"