Full text: Zunächst für die unteren und mittleren Klassen der Gymnasien, mit Rücksicht auf schriftliche Arbeiten der Schüler (Theil 1, [Schülerband])

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sein liebes Thier, das die Traulichkeit recht zur Verwunderung der 
Leute zu erwiedern wußte. 
90. Die drei Meisterstücke. 
Ein Vater von drei Söhnen hatte nichts weiter im Vermögen, 
als das Haus, worin er wohnte. Da er seine Kinder alle drei 
gleich lieb hatte, so wußte er nicht, wem er nach seinem Tode das 
Haus vermachen sollte. Er hätte es zwar verkaufen und dann das 
Geld unter sie vertheilen können; aber das war seinem Herzen 
unmöglich; denn so weit das Andenken reichte, hatten seine Voreltern 
in den: Hause gewohnt, und so sollte es auch auf Kinder und Kindes¬ 
kinder sich forterben. Endlich fiel ihm ein guter Rath ein. Er sprach 
zu seinen Söhnen: „Geht in die Welt, und lerne jeder von euch 
ein Handwerk; wer mir alsdann das beste Meisterstück macht, der 
soll das Haus haben." 
Die Söhne waren damit zufrieden, und jeder wählte sich seine 
Kunst. Der älteste wollte ein Hufschmied, der zweite ein Barbier, 
der dritte ein Fechtmeister werden. Sie bestimmten die Zeit, wo 
sie beim Vater wieder zusammen kommen wollten, und zogen fort. 
Nun traf es sich, daß jeder einen tüchtigen Meister fand, bei dem 
er sein Handwerk aus dem Grunde erlernte und zu hoher Geschick¬ 
lichkeit kam. Der Schmied mußte die Pferde des Königs beschlagen, 
und er dachte: „Wenn das die anderen hören, so werden sie mir 
das Haus schon von selbst, überlassen." Der Barbier rasirte die 
vornehmsten Herren, und bei jeder Ausübung seiner Kunst sagte er 
in Gedanken wohlgefällig zu sich selber: „Das Haus ist dein!" 
Der Fechtmeister empfing zwar manchen schmerzhaften Hieb, aber 
er drückte die Zähne zusamnren und hielt Stand. Denn er dachte: 
„Fürchtest du dich vor einem Hiebe, so kriegst du das Haus nim¬ 
mermehr." 
Als nun die gesetzte Zeit vorüber war, kanren sie alle in dem 
väterlichen Hause wieder znsanrmen rrnd hofften auf eine gute 
Gelegenheit, ihre Kunst zu zeigen. Eines Tages saßen sie neben dem 
Vater vor der Thüre des Hauses und erzählten von ihren Geschichten. 
Da kam eben ein Hase über das Feld gelaufen. „Ei," sagte der 
Barbier, „der kommt wie gerufen!" Sogleich nahm er Becken und 
Seife, schäumte, bis der Hase in die Nähe kam, seifte ihn in 
vollem Laufe ein und rasirte ihm auch in vollem Laufe ein Stutz¬ 
bärtchen. Dabei schnitt er ihn nicht und that ihnr an keineln Haare 
wehe. „Das gefällt mir," sagte der Vater; „ich glaube, das Haus 
wird dein sein!" Es währte aber nicht lange, so kam ein Herr 
in einem Wagen dahergefahren. „Nun sollt ihr sehen, was ich 
kann," sprach der Hltfschmied, sprang deut Wagen nach, riß dem 
Pferde, das in einem fort jagte, die vier Hufeisen ab und schlug 
ihm auch in vollcut Laufe vier nette wieder auf. „Du hast deine 
Sache eben so gut geutacht, wie dein Bruder," sprach der Vater; 
„ich weiß nicht, weut ich das Haus geben soll." Da sing es an 
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