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wenn dieselbe noch unreif ist, indem sie eingemacht auf die
Tafel gebracht wird. Hat sie die gehörige Reife erlangt, so
wird aus ihrem Fleische das bekannte Oliven- oder Baumöl
gepresst, das fast in allen südlichen Ländern Europas statt
der Butter zur Bereitung vieler Speisen gebraucht, namentlich
aber als Salatöl benutzt wird. Doch nicht nur in ihren Früchten
spendet die Olive den mannigfaltigsten Segen, ihr Holz ist
auch eine Zierde der Stuben. Die Möbel, welche aus dem¬
selben angefertigt sind, sehen aus wie marmoriert, ja oft wie
mit Landschaften bemalt. Nicht minder ist der Baum ein
Schmuck der Gebirge und ein Liebling der Maler. Zwar sagt
man, dass er unserm Weidenbaum ähnlich sehe, der bekanntlich
kein schöner Baum ist; aber sicherlich übertrifft er ihn in
dem Wuchs seiner feinen, zierlich verschlungenen Zweige, in
dem silberfarbenen, leichten Blatte seiner Krone, in den lieb¬
lichen Gruppen, die er an den Bergabhängen Italiens bildet,
deren Rücken sich meistens nackt mit scharfen, bestimmten
Linien in die reine, tiefblaue Luft des Südens erheben und
aus der Ferne blau erscheinen. Er ist der viel besungene
Baum der alten Griechen, die ja, wie kein Volk, die Schönheit
zu schätzen wussten, soll aber erst aus Palästina nach Europa
gekommen sein. Im Alten Testamente wird seiner zuerst bei
der Sündflut gedacht. Die Taube, welche Noah zum zweiten
Male ausfliegen liess, trug, als sie zurückkam, ein frisches
Olblattin ihrem Schnabel, und Noah erkannte daran, dass das
Gewässer gefallen sei. Dieses grüne Friedensblatt, im Schnabel
der treuen Taube gehalten, ward später bei den ersten Christen
ein sinniges und liebes Denkmal. Auf ihren Friedhöfen sah
man nämlich häufig die Taube mit dem Olblatte in Stein aus¬
gehauen. Salomo liess aus dem Holze der Olive zwei Cherubim,
zehn Ellen hoch, anfertigen und dieselben in seinen herrlichen
Tempel bringen. In der Stiftshütte brannte das allerreinste,
lautere Olivenöl auf einer Lampe, und aus Olivenöl wurde das
heilige Salböl zubereitet, mit welchem Samuel sein Horn füllte,
als er den David mitten unter seinen Brüdern zum König
salbte. Auch der Frankenkönig Chlodwig, der bis zur Schlacht
bei Zülpich ein Heide gewesen, wurde am Weihnachtsfeste des