Full text: [Abt. 3 = Quarta, [Schülerband]] (Abt. 3 = Quarta, [Schülerband])

I. Märchen 
1. Der Adler. 
Auf der breiten Talsohle, welche die Ostrach eilfertig durchströmt, liegt 
das freundliche Dorf. Weiß schimmert seine breite Straße, weiß sind die 
steinernen Häuser, ziegelrot oder schieferblau die weit vorspringenden 
Dächer, die Fensterläden aber leuchten frischgrün wie die saftigen Matten, 
welche das Dorf umgeben. 
Auf diesen Matten unten im Tal hat das Gras gute Zeit, da wächst es 
wie von selbst; aber es ist auch rechts und links die Berge hinangeklettert, 
und das war ein saures Stück Arbeit. Erst lachten die grauen, grämlichen 
Felsenhäupter der Berge über das aufwärtsstrebende Gras. „Was für 
ein grünes Gekrabbel ist denn das da unten?" rief der Jseler. „Es kitzelt 
auch meinen Fuß," gab die Axel zurück; „je kleiner, desto kecker!" Aber das 
Gras ließ sich nicht mehr irre machen. Lacht ihr nur zu, dachte es, wer 
zuletzt lacht, lacht am besten. Ich weiß, was ich will, und mit kleinen 
Schritten kommt man am sichersten vorwärts. Es wuchs und wuchs, bis 
die Sache den Bergriesen über den Spaß ging und sie unwillig ihre Häupter 
schüttelten, daß Steingeröll niederging und dem Grase den Weg versperrte. 
Gleich kam auch das Moos herbei und sprach zum Grase: „Hier beginnt 
mein Reich, das Geröll will ich bekleiden, du hast die ganze Ebene für dich!" 
Aber wo das Geröll aufhört, kann auch das Moos nicht weiter, da 
ragen zerklüftete, unwirtliche Felsenwände empor, die kein grünes Kleid 
dulden wollen; stolz leiden sie nur dichte Wolkenschleier oder den könig¬ 
lichen Purpurmantel der Abendröte, und ihr einziger Schmuck ist der 
goldene Sonnenschein. Dort oben horstete menschenfern ein Adler. Wenn 
der herbe Hauch der Morgenluft vor Tagesanbruch über sein Nest strich, 
schüttelte er sein braunes Gefieder, reckte die gewaltigen Schwingen und 
prüfte ihre Tragkraft, und wenn die Sonne aufging und die erwachende 
Erde ihr mit tausend Stimmen entgegenjauchzte, dann breitete er die 
Flügel aus und kreiste in weitem Bogen über dem grünen Tal mit dem 
freundlichen Dorfe. Erblickte er eine Beute, so schoß er wie der Blitz hinab, 
packte sie und trug sie in sein Nest. 
So hauste der Adler, er wußte selbst nicht, wie lange. Wenn der weiche, 
kühle Schnee durch die Luft wirbelte, oder wenn seine ausgebreiteten 
Schwingen einen dunklen Schatten auf die weiße, schimmernde Decke
	        
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