VI. Legenden.
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11-Doch vor allen ein Paar Raben,
Fast als hätten sie Verstand,
Waren herzlich ihm gewogen.
Kamen an den Tisch geflogen,
Aßen zahm aus seiner Hand.
12. So floß, wie am nahen Felsen
Durch des Thälchens sanstes Grün
Sich ergoß die Silberquelle,
Still und ruhig, rein und helle
Seine Lebenszeit dahin.
13. Einst vor Tagesanbruch kniete
Er vor dem Altar so da,
Auf dem, in der Jungfrau Armen,
Voller Huld und voll Erbarmen,
Man den Himmelsknaben iah.
14. Rötlich glänzt das holde Bildnis,
Von der Silberlamp' erhellt,
Die ein Ritter, desien Wunden
Meinrad liebevoll verbunden,
Einst dem Kirchlein zugestellt.
15. Während so der Alte betet,
Stürzt herein ein Rüuberpaar;
Unter ihren 2) Mörderhänden
Muß er, ach! sein Leben enden —
Blutbespritzt steht der Altar3).
16. Mit der schweren Ampel schleichen
Scheu die Mörder sich davon —
Dem Gerichte zu entlaufen
Und das Silber zu verkaufen,
Ihrer Mordthat Sündenlohn.
19. Fruchtlos trachten sie zu fliehen,
Schutz zu suchen fern und nah;
Sieh, die Schreckensvögel weichen
Keinem Drohen, keinen Streichen —
Immer sind sie wieder da.
20. Armer Hirten Söhne wurden
Dieses Schauspiel bald gewahr.
„Seht des frommen Meinrads Raben!"
Schrieen die erschrocknen Knaben,
Und schon kommt der Hirten Schar.
21. Fest mit starken Fäusten greisen
Sie das freche Mörderpaar,
Führen sie zu Meinrads Zelle,
Finden dort in der Kapelle
Meinrads Leichnam am Altar.
22. Wie versteinert stehn die Hirten,
Totenblässe im Gesicht;
Drauf in furchtbarem Gedränge
Führet ihre ganze Menge
Fort die Mörder vor Gericht.
23. Schnell, wie Gottes starker Donner
Schwer von Berg zu Berge hallt,
Breitet sich die Trauersage,
Schrecken, Angst und laute Klage
Rings umher durch Feld und Wald.
24. Sieh, der Landvogt, ernst und strenge,
Sitzt schon auf dem Richterthron;
Rings umstürmt ihn Volksgetümmel,
Und an Gottes hohem Himmel
Siehet4) man die Raben schon.
17. Aber horch, welch ein Gekrächze,
Das so schaurlich Rache ruft!
Sieh, die treuen Raben eilen
Schnell, gleich abgedrückten Pfeilen,
Kläglich schreiend durch die Lust.
25. Durchs Gedränge schleppt die Mörder
Jetzt die Hirtenschar herbei,
Bringet vor die schwere Klage —
Wie zum Zeugnis der Aussage
Tönt der Raben Rachgeschrei.
18. Wild die schwarzen Flügel schlagend,
Stürmen rauschend sie heran,
Und mit scharf gespitzten Krallen
Und mit starren Schnäbeln fallen
Wütend sie die Mörder an.
26. Bleich und zitternd stehn die Mörder,
Läugnen nicht den blut'gen Mord;
Staunend schweigt der Richter lange —
Stille harrt das Volk und bange —
Endlich—horcht! — nimmt er das Wort:
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