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B. Veschreibende Prosa. VII. Geographische Bilder.
87. Bethanien.
Von Gotthilf Heinrich von Schubert. Reise in das Morgenland. Erlangen, 1839.
Von der Grabeskirche bei Gethsemane wandten wir uns neben
dem Kidronthale hin nach dem Dorfe Bethanien, in welchem Lazarus
mit seinen Schwestern Maria und Martha wohnte. Links vom Wege
liegt das Dörflein, das selbst noch in seiner jetzigen Gestalt als einer
der lieblichsten Orte des Landes erscheint. Es hegt seitwärts von der
Heerstraße im Schutze der Berge, umgeben von hohen Bäumen, die
gegen Westen hin einen Wald von Gaͤrten bilden. In ihrem dichten
Schatten grünen der Fels und die Haufen der Trümmer. Versunkenes
Gemäuer, das, wie man glaubt, zu des Lazarus Hause gehörte, und
eine tiefe Felsenkammer, in die man nahe bei der lleinen Moschee den
Pilgrim als zu Lazarus' Grabe hinabführt, erinnern hier an den, der
als Sieger auf dem Staube des Grabes stand und sich kundgab als
die Auferstehung und das Leben.
Noch jetzt wohnt diesem Dörflein ein Reiz inne, der es zu einem
Lieblingsorte der fremden Pilgrime macht. An keinem Orte der Um—
gegend von Jerusalem sahen wir so viele Wallfahrer aus den ver—
schiedensten Gegenden des Morgenlandes einträchtiglich versammelt wie
hier. Im Schatten der Bäume saßen Eltern und Kinder, Freunde bei
Freunden oder auch Unbekannte bei Unbekannten und genossen die leib—
lichen Erquickungen, die ihnen das kleine arabische Dorf zu ihrem
Mittagsmahle bieten konnte. Wie sollte auch der Anblick von Betha⸗
niens alten Gemäuern den Pilger nicht rühren? Die Stunden des
Ausruhens in Lazarus' und Marthas und Marias Hause sind längst
vorübergezogen; die Liebe aber, die sich da zu dem Geschlecht der sterb⸗
lichen Menschen gesellte, wohnet noch immer über dem Thaͤle wie über
den Hügeln; denn sie gründet tiefer als die Tiefe, spanuet höher als
die Höhe und ist bleibender denn Thal und Hügel.
88. Der Olberg.
Nach Gotthilf Heinrich von Schubert. Reise in das Morgenland. Erlangen, 1839.
Wir traten zu demjenigen Thore Jerusalems hinaus, welches zum
Andenken an den ersten der Blutzeugen das St. Stephansthor genannt
wird. Unter uns im Thale lag Gethsemanes Garten, vor uns der
grünende Olberg mit seinen drei Gipfeln. Eine steinerne Brücke führt
über den jetzt ganz wasserlosen Bach Kidron; dann eröffnet ein durch
den Felsen gehauener, durch eine Thür verschließbarer Gang die Bahn
zu dem Thale Gethsemanes, auf welches uralte Olbäume zur Rechten
und der überhangende Fels zur Linken dichte Schatten werfen. Nahe
bei Gethsemanes heiligem Felsendunkel ist der Olgarten. Hier stehen