Luden: Deutschland. Mendelssohn: Der Rheinstrom.
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Auch ist das Land nicht umsonst bestimmter Grenzen beraubt,
gegen Morgen wie gegen Abend und selbst gegen Mitternacht. Die
Bewohner können sich gegen den Neid, die Habsucht und den Über—
mut fremder Völker auf nichts verlassen als auf ihre eigene Kraft.
Es giebt für sie keine Sicherheit als in ihrem festen Zusammenhalten,
in ihrer Einigkeit, in ihrer sittlichen Macht.
Endlich ist den Bewohnern dieses Landes durch große und schöne
Ströme das Meer und der Zugang zur Welt geöffnet. Aber das
Meer drängt sich nicht so verführerisch an sie heran oder zwischen sie
hinein, daß sie verlockt und dem heimatlichen Boden entfremdet werden
könnten. Vielmehr kann der edlere Mensch dem Gedanken an eine
deutsche Erde und an einen deutschen Himmel nicht entgehen, und
dieser Gedanke scheint in ihm die Sehnsucht erhalten zu müssen nach
der Welt seiner Geburt und die Liebe zu dem Boden seines Vaterlandes.
90. Der Rheinstrom.
Von Georg Benjamin Mendelssohn. Das germanische Europa. Berlin, 1836.
Der Deutsche mag wohl auf seinen Rheinstrom stolz sein: nicht
auf seine Größe — viele andere Ströme, selbst europäische, übertreffen
ihn weit an Länge, Breite, Wasserfülle, an kolossaler Ausdehnung ihres
Gebiets — nicht einem aber ist ein so edles Ebenmaß beschieden, so
richtige Verhältnisse, so vollständige Entwickelung; nicht einer sieht an
seinen Ufern auf gleiche Weise Kunst und Natur, geschichtliche Erinnerung
und lebendige Gegenwart vereint. In dem erhabensten und herrlichsten
centralen Gebiete des mächtigen Alpengürtels hangen an himmelhohen
Felsgipfeln mehr als dreihundert Gletscher, welche dem Rhein ihre
vollen, tobenden Gewässer zusenden. Wo sie aus dem Gebirge hervor—
treten, da beruhigen und läutern sich die ungestümen Alpensöhne in etwa
fünfzehn der größten und schönsten Seen, unergründlichen, smaragdenen
Becken, welche hier von unerklimmbaren Felsen eingeengt, dort von
Rebenhügeln und grünen Matten umkränzt sind, darunter einer fast
wie das Meer unabsehbar. Krystallhelle Fluten entströmen diesen Seeen,
in raschem, doch schon ruhigerem Lauf. Bald in einem Bette vermischt,
wogen sie mächtig und friedlich dahin, durch lachende Fluren, an statt—
lichen Schlössern, hohen Domen, kunstreichen, belebten Städten vorbei,
denen sie reiche Lasten zuführen. Hohe Waldgebirge winken lange aus
blauer Ferne, spiegeln sich dann in dem herrlichen Strom, bis er die
weite, schrankenlose Ebene betritt und nun dem Schoße des Meeres
zueilt, ihm mächtige Wasserspenden zu bringen und sich dafür in seinem
Gebiet ein neues Land zu erbauen.
An den Wiegen des Rheins erklingen die Gesänge armer, aber
freier und froher Hirten; an seinen Mündungen zimmert ein ebenso