160 A. Erzählende Prosa. Y. Geschichtliche Charakterzüge u. Lebensbilder.
sich von Grund der Seele eine Bibel, die damals sehr kostbar war,
gewünscht. Da er sein zweiundzwanzigstes Jahr beschlossen, begab sich
mit ihm im Jahre 1505 etwas Sonderbares. Einer seiner besten
Freunde, Alexius, wurde in der Nacht zu Erfurt erstochen; dazu kam
ein schrecklicher Donnerschlag, der ihn selbst betäubte und neben ihm
einschlug. Darüber bestürzt und in sich gekehrt, entschloß er sich, die
Welt zu verlassen, wie man zu sagen pflegte, das heißt, in ein Kloster
zu gehen. Er ging darauf in den Orden der Augustiner, welcher ihm
zur Erlernung der wahren Gottesfurcht am angemessensten schien, ob¬
wohl wider Willen seines Vaters, den er durch Zusendung seines
Magisterringes und seiner weltlichen Kleider sehr betrübte, aber mit
dem göttlichen Wink und Ruf, den man damals zur Wahl des Mönch¬
standes für nötig erachtete, endlich beruhigte.
In dem Kloster wurde er zu den allergemeinsten Diensten verwendet
und überaus hart gehalten. Er mußte nicht nur fleißig mit dem Bettel¬
sack in der Stadt umherlaufen, sondern auch die Thüren hüten, die
Kirche kehren, ja sogar die Unreinigkeiten des Klosters ausräumen, was
er alles auch mit Gehorsam that. „Wenn die andern Mönche," be¬
richtet ein Zeitgenosse, „den neuen Bruder im Lesen der heiligen Schrift
so fleißig sahen, murreten sie sehr und sagten, man müsse nicht mit
Studieren, sondern mit Brot-, Getreide-, Eier-, Fisch-, Fleisch- und
Geldbetteln sich dem Kloster nützlich machen". Daß er so sehr mit
Eifer die Quellen der göttlichen Lehre, nämlich die Schriften der Pro¬
pheten und Apostel, las und sich immer mehr von dem Willen Gottes
unterrichtete, seinen Glauben zu stärken und zu nähren, dazu war noch
die besondere Veranlassung die ungemeine Qual und Angst, welche er
in seiner Seele oft empfand; auch auf den Leib achtete er gar nicht
sonderlich, sondern hielt sich streng an die Zucht des Klosters und in
allen Übungen mit Lesen, Fasten, Disputieren und Beten, wobei er
überhaupt wenig Speise und Trank zu sich nahm und oft den Tag
über mit wenig Brot und einem elenden Heringe sich begnügte. Wie
aber Gott denen, die ihn redlich suchen, oft eine unerwartete Hilfe und
Erquickung zuschickt, so gab es auch gutgesinnte Leute, die nicht nur
seinen schweren Dienst im Kloster ihm erleichterten, sondern auch seinem
Gemüte freundlich zusprachen. So erzählt er selbst, daß er einst durch
eines Greises Rede gar wunderbar gestärkt worden sei. Als er nämlich
diesem Klosterbruder seine Gewissensunruhe mitteilte, hörte er den¬
selben gar vieles reden vom Glauben, was ihn sehr bewegte, besonders
da er ihn hinwies auf das Hauptstück des Glaubens, in welchem es
heißt: ich glaube an eine Vergebung der Sünden. Welch einen Ein¬
druck diese wenigen Worte auf sein Gemüt gemacht und wie sie die
ganze Richtung seines inneren geistlichen Lebens veranlaßt haben, hat
er selbst nachher oft bekannt und in seinem ganzen Leben erwiesen.
Gleicherweise richtete ihn auch die erheiternde Zusprache des ehrwürdi¬
gen Johannes von Staupitz auf, der als Generalvicarius seines Ordens
in dem Kloster zu Erfurt bald auf Luther aufmerksam wurde und die
tiefe Betrübnis seinw Seele bemerkte. Demselben beichtete Luther oft,