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der sich in der Fülle seines Wesens offenbaren, im Zusammenspiele aller
seiner Kräfte sich als schöpferische Macht erweisen und in genialer Un¬
mittelbarkeit das Gesetz diktieren sollte. Dies verworrene Sehnen und
Streben wurde zunächst, stark versetzt mit dem im stillen immerfort ge¬
pflegten pietistischen Geiste, in den Prophetenstimmen eines Hamann und
Lavater laut. Ls breitete sich in dem Kopfe Herders zu einem unüberseh¬
baren Plan wissenschaftlicher Aufgaben aus. Ls brach sich mit hinreißender
Beredsamkeit in Goethes Jugenddichtungen Bahn. Ls lag in Jacobis Geist
in ewigem Hader mit dem Bedürfnis nach dem nicht mehr standhaltenden
Gesetz des aufklärenden Verstandes.
Die ersten tumultuarischen Äußerungen dieses Sturm- und Drang-
geistes waren vorüber, als die Gründer der romantischen Schule sich auf
der Universität bildeten und also in den Jahren standen, in denen die Ideale
der Jugend Frucht anzusetzen beginnen. Um bleibendsten hatte sich jener
Geist in Herders Arbeiten ausgestaltet. Der lebendige Mensch, das viel¬
gestaltige Geschöpf der proteusartig schaffenden Natur ist das eine Thema
dieser Arbeiten. In alles Menschliche, in alle Fähigkeiten der menschlichen
Seele, in alle Formen und alle Wandlungen der über die Lrde verbreiteten,
zeitlich und örtlich bedingten Menschenart, in alle Geistesschöpfungen, alle
Denk-, Lmpfindungs- und Ausdrucksweisen, in Nationen und Zeiten, in Sitte
und Religion, in Sprache und Dichtung von Völkern und Individuen sich
beweglich hineinzuempfinden: das war die einzige Gabe Herders. So hu¬
manisiert sich seine Kritik und hebt den Vollgehalt dichterischer Werke
in die empfänglich rege Seele hinüber. So dehnt sich vor seinem Blick
die Geschichte in neuen weiten, und all ihre Erscheinungen ordnen sich in
einer nicht bloß flächen- sondern körperhaften Perspektive. Aber während
Herder so die Schranken der Verständnisses alles Menschlichen ins ungemeine
erweiterte, entrangen sich die vollen Saute einer in sich selbst unendlich
reichen Natur dem Dichtermunde Goethes. Neben dem rezeptiven das pro¬
duktive Genie dieser genialen Lpoche. In seinem Götz und werther und
Faust und in einer Fülle seelenvoller Lieder war aller Sturm und Drang,
der die Zeit bewegte, in unvergleichlicher Kraft zutage gekommen. Lr
jedoch war da nicht stehen geblieben. Der geborene Liebling der Natur,
war er zu ihrem vertrauten geworden, hatte er ihr ewiges, stilles Gesetz
in die stürmisch bewegte Seele aufgenommen. Dem Geheimnis ihrer Bil¬
dungen nachsinnend, sich ihrer regen Stille und reinen Weisheit in sittlicher,
Entsagung lehrender Pflichtübung annähernd, schritt er dazu fort, immer
naturgleichere, vollendetere, menschlich schönere Werke zu bilden. Aus dem
stürmischen Drang der Jugend gelangte er zu dem ruhigen Ebenmaß seines
Mannesalters. Lin anderer Geist als in Götz und werther lebte in Iphigenie
und Lasso, und dies waren die Werke, welche jener jüngeren Generation
bereits neben den älteren aufregenderen des Meisters und zugleich neben