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IV. Sagen.
zwei Bettstellen, eine sehr kurze und eine sehr lange. Zu diesen
führte er den Fremden, der in seine Hände geraten war. War dieser
lang, so zwang er ihn, sich in das kurze Bett zu legen, und hieb
dann so viel von den Beinen ab, bis der Körper in das Bett paßte.
Wenn aber der Fremde klein war, so mußte er sich in das lange Bett
legen, und dann reckte der Unhold ihn so lange, bis seine Füße an
das Ende des Bettes stießen und er unter unsäglichen Schmerzen den
Geist aufgab. Theseus aber vergalt ihm Gleiches mit Gleichem. Er
warf den Riesen in die kleine Bettstelle und hieb ihm mit dem Beile
die Beine ab, daß er jämmerlich umkam.
2.
König Ägeus nahm seinen Sohn mit großer Freude auf, als dieser
nach so herrlichen Taten in Athen ankam, und mit gerechtem, väter¬
lichem Stolze hörte er den Bericht von seinen Heldentaten. Alles Volk
freute sich des herrlichen Jünglings, den es als Kronerben begrüßte.
Nur die Neffen des Königs Ägeus waren unzufrieden; sie hatten ge¬
hofft, nach dessen Tode sich sein Erbe zu teilen. Sie griffen zu den
Waffen, um Ägeus und Theseus, den sie einen Betrüger nannten,
zu vertreiben. Aber ehe sie sich dessen versahen, überfiel sie Theseus
und hieb sie alle nieder. Bald darauf befreite Theseus das Land von
einem wilden Stier, der entsetzliche Verheerungen anrichtete. Er nahm
ihn lebendig gefangen, führte ihn nach Athen und opferte ihn dem
Apollo.
Auf den Athenern lastete aber damals ein schweres Geschick. Vor
Jahren war ein Sohn des Königs Minos von Kreta zu den in Athen
veranstalteten Waffenspielen gekommen. Er hatte über alle Mit¬
kämpfer den Sieg davongetragen, und, erbittert über ihre Niederlage,
hatten die Athener den heimkehrenden Jüngling hinterlistig überfallen
und ermordet. Diesen Frevel zu rächen, war König Minos mit vielen
Schiffen und Kriegern herbeigezogen, hatte Athen belagert und be¬
zwungen und den tiefgedemütigten Bewohnern eine harte und schmähliche
Strafe auferlegt. Jedes neunte Jahr mußten sie sieben Jünglinge und
sieben Jungfrauen als Tribut nach Kreta schicken, um dort dem
Minotaurus, einem schrecklichen Ungeheuer, halb Stier, halb Mensch,
das in dem Labyrinthe seinen Wohnsitz hatte, zum Fraße zu dienen.
Das Labyrinth aber war ein ungeheures Gebäude mit so viel Sälen,
Gemächern und Jrrgängen, daß diejenigen, die hineingerieten, nimmer
wieder den Ausgang fanden. Zum drittenmal kamen die Gesandten
des Minos, um die Opfer abzuholen. Da jammerte den Theseus die
Not seines Volkes, und er erbot sich, freiwillig mitzuziehen, um entweder
die armen Jünglinge und Jungfrauen zu retten, indem er den Mino-