Full text: Für die untern und mittlern Klassen (Theil 1, [Schülerband])

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18. Das Bild des Großvaters. 
Zu den Zeiten unserer Väter saß am hohen Thore von Danzig ein altes 
Mütterlein, Namens Else, die in einer hölzernen Bude ein kleines Waarenlager 
von Nürnberger Spielsachen, bunten Bilderbogen und einigem alten Gerümpel 
feil bot. 
Die Bude war, wie das alte Mütterlein, ganz morsch und gebrechlich; denn 
Else war in derselbe^ schon als Kind geschäftig gewesen; sie saß hier als Braut, 
als junge, blühende Frau, als Mutter. Sie trauerte hier als Witwe; sie saß hier 
mit bleichem Angesicht und rothgeweinten Augen, als sie ihr letztes Kind begraben 
hatte. Alle ihre Freuden und alle ihre Schmerzen hatte sie hier durchlebt, geduldig 
in Trübsal, dabei aber fröhlich in Hoffnung auf die Hülfe des Herrn. Nun aber 
wurden ihre letzten Tage immer trauervoller: denn nur selten blieb noch ein Käufer 
vor der kleinen Bude stehen, ja oft, sehr oft mußte sie abends ihr kleines Waaren¬ 
lager schließen, ohne einen Groschen gelöst zu haben. Da mußte sie denn freilich 
darben und entbehren. Sie hatte zwar nie etwas von Wohlleben geschmeckt, aber 
immerdar doch so viel errungen, um des Leibes Leben von einem Tage zu dem 
andern fristen zu können. 
Jetzt aber war ihre Noth überaus groß geworden; denn schon seit drei Ta¬ 
gen hatte sie auch gar nichts verkauft, und doch war die Miethe für die kleine 
Kammer, worin sie des Nachts schlief, fällig. Zwar machte ihr diese Schuld gerade 
nicht so großen Kummer; denn sie wohnte bei armen Leuten, die selbst den Man¬ 
gel und die Noth nur zu gut kannten, und die deshalb mit der noch ärmern Alten 
Nachsicht hatten bis aus bessere Zeiten. Aber der Mann, von dem sie die Spielsachen 
und die bunten Bilder bezog, war, obwohl reich, doch harten Herzens. Er hatte 
gedroht, wenn Else die für ihn unbedeutende Schuld nicht zahlen würde, ihr ge¬ 
richtlich die Bude verkaufen, sie selbst aber in den Schuldthurm sperren zu lassen. 
So saß sie denn ganz sorgenvoll da, das Haupt gebeugt, die hagern Hände 
gefaltet in den Schooß gesenkt zu ihren stillen Herzensgesprächen. Draußen aber 
zwitscherte die Lerche recht fröhlich, denn der Frühling war gekommen; aber ihr 
ward immer weher ums Herz, und sie wünschte sich sehnlich dorthin, wo ihr braver 
Mann und ihre Kinder längst ruheten. 
Da kam ein Mann dahergeschlendert, der störte sie in ihren Betrachtungen 
und Wünschen. Er war auch kein Jüngling mehr, denn sein Haar ergraute bereits; 
sonst war er aber noch ziemlich rüstig und kräftig. Was er war, das verrieth seine 
Theerjacke und der breite, schwankende Gang, nämlich, daß er ein Seefahrer war. 
Er hatte die Arme übereinander geschlagen und sah, wie es schien, befremdet und 
doch bekannt umher. 
Nachdem er nun jeden Stein am Thore, jeden Sitz und jedes Gebäude lange 
gemustert hatte, fiel sein Blick endlich auf die Bretterbude und auf Frau Else. Da 
trat er näher und sprach: „Es hat sich doch manches in Danzig verändert. In 
dieser kleinen Bude saß einst eine muntere, junge Frau, von der ich als Schulknabe 
manchen Bilderbogen gekauft habe. Wo mag diese hingekommen sein?" 
Die Alte lächelte wehmüthig und entgegnen: „Lieber Herr, das kann doch 
niemand anders gewesen sein, als ich selbst; ich sitze hier schon über fünfzig Jahre."
	        
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