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7. Wie viel ein Vaterunser werth ist.
Ein Bischof fand einen armen Menschen auf der Straße, desien erbarmte
er sich, räumte ihm eine Wohnung ein in seinem Hof und versprach ihm seine
tägliche Nahrung zu geben, so lange er lebte; doch sollte der Arme täglich ein
Vaterunser für ihn sprechen, damit ihn Gott vor allem Uebel bewahre: das
versprach der Arme. Da befahl der Bischof seinem Schaffner, dem Armen fortan
täglich seine Nahrung zu reichen. Das geschah, und der Arme sprach auch täglich
ein Vaterunser für den Bischof, vaß ihm kein Uebel widerfuhr. Das währte, bis
der Bischof eine Reise nach Rom antreten mußte; da geschah es eines Tags, daß
der Schaffner vergaß, dem Armen seine Speise zu reichen. Da ließ der arme Mann
das Vaterunser unterbleiben und sprach es nicht für den Bischof. An demselben
Tage gerieth der Bischof in so große Noth, daß er fast ertrunken wäre, und kam
auch nicht ohne großen Schaden davon. Diesen Tag merkte sich der Bischof wohl.
Darnach, als er wieder nach Hause kam, fragte er den armen Mann, ob er auch
alle Tage das Vaterunser für ihn gesprochen hätte. Ja, sagte der arme Mann, alle
Tage, nur Einen Tag nicht. ' Da unterließ ich es, weil mir der Schaffner meine
Nahrung nicht reichte. Da ward der Bischof zornig und sprach zu dem Schaffner:
Ihr habt mir großen Schaden gethan, den sollt ihr mir ersetzen. Der Schaffner
sagte: Herr, erzürnt euch nicht wider mich eines Vaterunsers wegen, ich will es
euch gerne bezahlen. Sagt nur, was ihr dafür haben wollt. Ich verlange nicht
mehr, sagte der Bischof, als was es werth ist: fahrt gen Nom und fragt nach,
wie viel ein Vaterunser werth sei. Der Schaffner mußte nach Nom fahren und den
Pabst fragen, wie viel ein Vaterunser werth sei. Ein Vaterunser, sagte derPabst,
ist einen Pfennig werth. Der Schaffner kam also zurück zu dem Bischof und sprach:
Herr, ich bin zu Rom gewesen bei dem Pabst und habe die große Mühe und Kosten
aufgewandt für nichts und wieder nichts. Der Pabst hat gesagt, ein Vaterunser
sei einen Pfennig werth. Ich wollte euch hundert Pfennige gegeben haben, wenn
ihr mir die Müh und Kosten erlaffen hättet. Aber der Bischof sprach: Hat denn
der Pabst auch gesagt, was für einen Pfennig? Es gibt Gold-, Silber- und Kupfer¬
pfennige. Nein, sagte der Schaffner, davon war keine Rede. So müßt ihr noch
einmal dahin fahren, sagte der Bischof, und fragen, was es für ein Pfennig sein
solle. Der Schaffner mußte also wieder nach Rom fahren und den Pabst fragen,
was er für einen Pfennig gemeint habe. Der Pabst gab zur Antwort, es muffe
ein goldener Pfennig sein. Als der Schaffner wieder nach Hause kam, sagte er:
Herr, es soll ein goldener Pfennig sein. Ich hätte euch aber gern zehn Gold¬
pfennige gegeben, wenn ihr mir die doppelte Reise erlaffen hättet. Der Bischof
sagte: Aber sagte der Pabst denn auch, wie groß der Pfennig sein sollte? Nein,
sagte der Schaffner, davon ist keine Rede gewesen. Da sprach der Bischof: So
zieht zum dritten Mal gen Rom und fragt den Pabst, wie groß der Pfennig sein
solle. Mochte er nun wollen oder nicht, er mußte zum dritten Mal gen Rom und
den Pabst nach der Größe des Goldpfennigs fragen. DerPabst sprach: Der Pfennig
soll so groß sein wie die ganze Welt und dabei so dick als der Himmel hoch ist.
Betrübt zog der Schaffner heim zu dem Bischof, siel ihm zu Füßen und sprach:
Lieber Herr, seid mir gnädig, denn ein Vaterunser kann ich euch nicht bezahlen, ja