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feiner Ehre schuldig zu sein, entweder das Volk von diesem furchtbaren Feinde zu
befreien oder im Kampfe für dasielbe sein Leben aufzuopfern. Traurig sah sein alter
Vater von der Mauer herab und winkte ihm unaufhörlich mit bittenden Geberden,
hereinzukommen; aber vergeblich.
Jetzt kam Achilles von Agenors Verfolgung zurück, die Lanze auf der Schul¬
ter. Unmuthig wie der Löwe, dem eine erwünschte Beute entsprungen ist, kam er
daher, und seine Waffen glänzten im Strahle der Abendsonne, wie ein leuchtender
Stern am nächtlichen Himmel. Ihn sah der alte Priamus mit raschen Schenkeln
einher schreiten, da schlug er in banger Todesahnung sein graues Haupt, und ihm
bebte das Herz, indem er seinen Sohn draußen allein sah. „Lieber Sohn," rief er
flehend mit ausgebreiteten Armen hinunter, „erwarte doch ja nicht den grausamen
Mann, der noch weit stärker ist als du. Ach, wäre er doch den Göttern so verhaßt
als mir; dann läge er bald den Hunden und Geiern ein Raub! Wie viel Söhne
hat mir nicht der Entsetzliche schon gemordet oder nach fernen Inseln verkauft!
Und heute vermisse ich wieder unter den Kommenden meinen geliebten Polydorus
und Lykaon, welche beide mir die holde Laothos gebar: ach, vielleicht hat auch
diese heute sein furchtbarer Arm ereilt! Und nun willst auch du, mein Hektor, ihm
entgegen gehen, du Einziger, auf den Trojas Volk noch sein Vertrauen setzt! O,
komm doch schnell herein, ehe er dich erblickt, damit nicht auch du noch seinen Ruhm
verherrlichst und von seiner Hand stirbst. Komm, erbarme dich meiner! Schon hat
Zeus mit unendlichem Gram mein trauriges Alter belastet; und raubt er mir dich
noch, so sehe ichs auch, wie sie hereinbrechen werden in die Burg, wie sie die
Weiber hinwegreißen, die Kinder tobten und die Schätze in den Kammern ausplündern.
Wehe mir, ich selbst liege dann wohl zerfleischt im Hofe, und die Hunde, die eige¬
nen Hunde, die ick groß zog, fresien mein Fleisch und nagen mir das Fett von
den Eingeweiden. Ach, dem Jünglinge steht es wohl an, im Kampfe für Weib und
Vaterland zu bluten; aber wenn das graue Haupt und der graue Bart von den
gierigen Thieren im Staube zerrissen werden! Ha, das ist das kläglichste aller
Jammergeschicke!"
So rief weinend der alte Vater; auch die Mutter klagte und schlug an die
Brust, mit der sie den Hektor genährt hatte; aber sie konnten ihn nicht bewegen.
Er blieb standhaft am Thor und erwartete den Achill, wie die Schlange in Ringeln
zusammengerollt seitwärts am Eingänge ihrer Höhle auf den Wanderer lauert, auf
den sie losspringen will.
„Nimmermehr," sprach er seufzend zu sich selbst, „darf ich so mich sehen lassen
vor den Männern in der Stadt. Wie würde Polydamas mit gerechten Vorwürfen
mich überhäufen, daß ich heute so viele der trautesten Freunde dem Tode geopfert
habe! Wohl rieth er gestern Abend klüglich bis in die Stadt uns zurückzuziehen,
aber ich Rasender folgte ihm nicht und erwartete den Morgen auf offenem Felde;
ja, ich vermaß mich, es allein mit Achilles aufzunehmen, und nun! Ach, nicht einen
Einzigen habe ich seiner mordenden Wuth entreißen können, und ich bekenne es, ich
selbst habe ihn aus Furcht vermieden, denn er ist gar zu gewaltig. Jetzt wahrlich
muß ich die kühne Wette mit dem Schicksal wagen, damit nicht Trojas jammernde
Weiber mich schelten, als hätte ich erst trotzend das Volk ins Verderben geführt
und nachher feigherzig mich selbst geflüchtet. Ha! ehe das ein Schlechterer von mir