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sagen soll, falle ich lieber selbst, wenn ich den Fürchterlichen nicht besiegen kann. —
Ach wie, wenn ich Schild und Helm auf die Erde legte, den Speer an die Mauer
lehnte und so dem Helden entgegen ginge, um einen friedlichen Vergleich ihm an¬
zubieten? wenn ich ihm Helena und alle ihre Schätze zurückzuliefern verspräche und
dazu die Hälfte aller Güter,, die Trojas Fürsten in ihren Häusern verwahren? —
Doch nein! ihm flehend zu nahen! unwürdiger Gedanke! daß er mich, den Ent¬
blößten, niederrisse wie ein Weib! — Nein, nickt plaudern will ich mit ihm, wie
Jüngling und Jungfrau in Liebesgeschwätz. Ich will kämpfen wie ein Mann! Und
falle mir dann mein Loos, wie es wolle: Ich siege oder sterbe mit Ehren."
So bei sich erwägend erwartete er den Feind. Aber was vermag der festeste
Vorsatz gegen die Mackt des Augenblicks? Kaum nahte der ungeheure Mann mit
dem entsetzlichen Blick und den gewaltigen Armen, kaum hörte Hektor sein wildes
Hohngeschrei, so übermannte ihn doch plötzlich der Schrecken, und ein unbesiegbarer
Trieb jagte ihn von dannen und beflügelte seine Schenkel. Er floh längs der Stadt¬
mauer hin, wie die Taube, die dem Habicht entrinnen möchte; aber wie der Ha¬
bicht mit stärkerer Kraft den schüchternen Vogel verfolgt, so auch Achill den fliehen¬
den Hektor. Bald rechts bald links sprang jener ab, um den verfolgenden Läufer
zu ermüden, aber umsonst. Jetzt rannten sie an der Warte vorüber, jetzt bei dem
Feigenbäume und jetzt bei den Quellen, neben welchen die steinernen Gruben für
die Wäscherinnen waren. Und um die Stadt trieb ihn der gewaltige Verfolger, ja,
noch einmal und zum dritten Male jagte er ihn herum, und so oft sich Hektor zur
Mauer wandte, um etwa durch ein offenes Thor zu entschlüpfen, so oft sprang
Achill seitwärts ab und trieb ihn wieder ins offene Feld hinaus, selbst an der
Seite der Stadt hinfliegend. Kamen sie aber bei dem Orte vorbei, wo die Achäer
noch aus ihre Lanzen gelehnt standen und der Entscheidung harrten, so winkte Achill
und verbot, daß nicht etwa jemand ein Geschoß auf Hektor schleudere und ihm
die Ehre des Sieges raube.
Alle Götter sahen von der Höhe des Olymp dem bangen Wettlauf zu. Kei¬
ner durfte sich des armen Hektor annehmen, denn seine Stunde war gekommen, und
dem Schicksal konnten auch die Götter selbst nicht widerstreben. Zeus, so dankbar
er sich der vielen fetten Hüftenstücke erinnerte, die ihm Hektor so oft verbrannt
hatte, ergriff dennoch ruhig die Schicksalswage und warf zwei Todesloose hinein,
und siehe, sogleich sank die Schale mit Hektors Loose tief hinab. Und damit ver¬
ließ ihn auch der letzte Beistand der Götter.
Als sie zum vierten Male die Quellen und den Waschplatz erreicht hatten,
da auf einmal sprang von der Stadt her ein Mann dem Hektor entgegen, als
wollte er ihm Hülfe bringen. Es war Deiphobus, sein Bruder, der rief ihm
zu: „Bruder, ich sehe deine Gefahr und komme dir beizusteben. Stehe still und er¬
warte ihn dreist!"
„Trauter Deiphobus, wie hast du's gewagt, —"
„Aus Liebe zu dir; der Schmerz durchdrang mir die Seele. Und Vater und
Mutter weinten so sehr, das konnte ich nicht ansehen. Jetzt wirf, da ist er!"
„Wohlan!" sprach Hektor und stellte sich dem Verfolger entgegen. „Halt,
Peleus Sohn," rief er ihm zu, „länger fliehe ich vor dir nicht. Jetzt treibt mich
das Herz an. dir zu stehen, mag ich dich tödten oder fallen. Aber laß uns vor den