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Da lief Tel! hinter sich über die Gebirge gen Uri, fand seine Gesellen und sagte
ihnen, wie es ergangen war. Grimm.
33. Der Frauensand.
Westlich im Südersee wachsen mitten aus dem Meer Gräser und Halme her¬
vor an der Stelle, wo die Kirchthürme und stolzen Häuser der vormaligen Stadt
Stavoren in tiefer Flut begraben liegen. Der Reichthum hat ihre Bewohner ruch¬
los gemacht, und als das Maaß ihrer Uebelthaten erfüllt war, gingen sie bald zu
Grund. Fischer und Schiffer am Strand des Südersee's haben die Sage von Mund
zu Mund fortbewahrt.
Die Vermögendste aller Jnsaffen der Stadt Stavoren war eine sichere Jung¬
frau, deren Namen man nicht mehr nennt. Stolz auf ihr Geld und Gut, hart ge¬
gen die Menschen, strebte sie blos, ihre Schätze immer noch zu vermehren. Flüche
und gotteslästerliche Reden hörte man viel aus ihrem Munde. Auch die übrigen
Bürger dieser unmäßig reichen Stadt, zu deren Zeit man Amsterdam noch nicht
nannte und Rotterdam ein kleines Dorf war, hatte den Weg der Tugend verlaffen.
Eines Tags rief diese Jungfrau ihren Schiffmeister und befahl ihm auszu¬
führen und eine Ladung des Edelsten und Besten mitzubringen, was auf der Welt
wäre. Vergebens forderte der Seemann, gewohnt an pünktliche und bestimmte Auf¬
träge, nähere Weisung; die Jungfrau bestand zornig auf ihrem Wort und hieß
ihn alsbald in die See stechen. Der Schiffmeister fuhr unschlüssig und unsicher ab,
er wußte nicht, wie er dem Geheiß seiner Frau, deren bösen, strengen Sinn er
wohl kannte, nachkommen möchte, und überlegte hin und her, was zu thun. Endlich
dachte er: Ich will ihr eine Ladung des köstlichsten Weizen bringen, was ist schö-
ners und edlers zu finden auf Erden, als dies herrliche Korn, dessen kein Mensch
entbehren kann? Also steuerte er nach Danzig, befrachtete sein Schiff mit ausge¬
suchtem Weizen und kehrte alsdann, immer noch unruhig und furchtsam vor dem
Ausgang, wieder in seine Heimat zurück. „Wie, Schisimeister," rief ihm die Jung¬
frau entgegen, „du bist schon hier? ich glaubte dich an der Küste von Afrika, um
Gold und Elfenbein zu handeln, laß sehen, was du geladen hast." Zögernd, denn
an ihren Reden sah er schon, wie wenig sein Einkauf ihr behagen würde, antwor¬
tete er: „Meine Frau, ich führe euch zu den köstlichsten Weizen, der auf dem gan¬
zen Erdreich mag gefunden werden." „Weizen," sprach sie, „so elendes Zeug bringst
du mir?" — „Ich dachte, das wäre so elend nicht, was uns unser tägliches und
gesundes Brot gibt." — „Ich will dir zeigen, wie verächtlich mir deine Ladung ist;
von welcher Seite ist das Schiff geladen?" — „Von der rechten Seite (Stuur-
boordszyde)," sprach der Schiffmeister. — „Wohlan, so beseht' ich dir, daß du zur
Stunde die ganze Ladung auf der linken Seite (Backboord) in die See schüttest;
ich komme selbst hin und sehe, ob mein Befehl erfüllt worden."
Der Seemann zauderte einen Befehl auszuführen, der sich so greulich an der
Gabe Gottes versündigte, und berief in Eile alle arme und dürftige Leute aus der
Stadt an die Stelle, wo das Schiff lag, durch deren Anblick er seine Herrin zu
bewegen hoffte. Sie kam und frug: „Wie ist mein Befehl ausgerichtet?" Da fiel
eine Schaar von Armen auf die Kniee vor ihr und baten, daß sie ihnen das Korn