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austheilen möchte, lieber als es vom Meer verschlingen zu lassen. Aber das Herz
der Jungfrau war hart wie Stein, und sie erneuerte den Befehl, die ganze Ladung
schleunig über Bord zu werfen. Da bezwang sich der Schiffmeister länger nicht und
rief laut: „Nein, diese Bosheit kann Gott nicht ungerächt laffen, wenn es wahr ist,
daß der Himmel das Gute lohnt und das Böse straft; ein Tag wird kommen, wo
ihr gerne die edlen Körner, die ihr so verspielt, eins nach dem andern auflesen
möchtet, euren Hunger damit zu stillen!" „Wie," rief sie mit höllischem Gelächter,
„ich soll dürftig werden können? ich soll in Armuth und Brotmangel fallen? So wahr
das geschieht, so wahr sollen auch meine Augen diesen Ring wieder erblicken, den
ich hier in die Tiefe der See werfe." Bei diesen Worten zog sie einen kostbaren
Ring vom Finger und warf ihn in die Wellen. Die ganze Ladung des Schiffes
und aller Weizen, der darauf war, wurde also in die See ausgeschüttet.
Was geschieht? Einige Tage darauf ging die Magd dieser Frauen zu Markt,
kaufte einen Schelfisch und wollte ihn in der Küche zurichten; als sie ihn aufschnitt,
fand sie darin einen kostbaren Ring und zeigte ihn ihrer Frauen. Wie ihn die
Meisterin sah, erkannte sie ihn sogleich für ihren Ring, den sie neulich ins Meer
geworfen hatte, erbleichte und fühlte die Vorboten der Strafe in ihrem Gewiffen.
Wie groß war aber ihr Schrecken, als in demselben Augenblick die Botschaft eintraf,
ihre ganze aus Morgenland kommende Flotte wäre gestrandet! Wenige Tage darauf
kam die neue Zeitung von untergegangenen Schiffen, worauf sie noch reiche Ladun¬
gen hatte. Ein anderes Schiff raubten ihr die Mohren und Türken; der Fall eini¬
ger Kaufhäuser, worin sie verwickelt war, vollendete bald ihr Unglück, und kaum
war ein Jahr verflossen, so erfüllte sich die schreckliche Drohung des Schiffmeisters
in allen Stücken. Arm und von keinem betrauert, von vielen verhöhnt, sank sie je
länger je mehr in Noth und Elend, hungrig bettelte sie Brot vor den Thüren und
bekam oft keinen Biffen, endlich verkümmerte sie und starb verzweifelnd.
Der Weizen aber, der in das Meer geschüttet worden war, sproß und wuchs
das folgende Jahr, doch trug er taube Aehren. Niemand achtete das Warnungs¬
zeichen, allein die Ruchlosheit von Stavoren nahm von Jahr zu Jahr überhand,
da zog Gott der Herr seine schirmende Hand ab von der bösen Stadt. Auf eine
Zeit schöpfte man Hering und Butt aus den Ziehbrunnen und in der Nacht öffnete
sich die See und verschwalg mehr als drei Viertel der Stadt in rauschender Flut.
Noch beinah jedes Jahr versinken einige Hütten der Jnsaffen, und es ist seit der
Zeit kein Segen und kein wohlhabender Mann in Stavoren zu finden. Noch immer
wächst jährlich an derselben Stelle ein Gras aus dem Waffer, das kein Kräuter-
tenner kennt, das keine Blüte trägt und sonst nirgends mehr auf Erden gefunden
wird. Der Halm treibt lang und hoch, die Aehre gleicht der Weizenähre, ist aber
taub und ohne Körner. Die Sandbank, worauf es grünt, liegt entlangs der Stadt
Stavoren und trägt keinen andern Namen als den des Frauensands.
Grimm.
34. Der Schwanritter.
Herzog Gottfried von Brabant war gestorben, ohne männliche Erben zu hin¬
terlassen ; er hatte aber in einer Urkunde gestiftet, daß sein Land der Herzogin und