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erreichen und es zur Rettung seiner Eltern und Angehörigen zu ge¬
brauchen. Was er unternommen, war ein gefährliches Stück Arbeit. Das
Wellengebrause war so furchtbar; die Macht des Sturmes fast unwider¬
stehlich; die Nacht so finster, daß man kaum auf Handlänge etwas zu
sehen vermochte; die Kälte des Wassers und des Sturmes erstarrend und
schneidend. Doch Gottvertrauen und Liebe im Herzen, teilte er kräftigen
Armes die Flut; aber wie er auch spähet, wohin er sich auch wendet —
nirgend ist ein Boot zu finden. Übermenschlich sind seine Anstrengungen!
Schon fühlt er, wie seine Glieder erstarren; schon wird es ihm klar, daß,
wenn nicht bald ihm der Herr ein Boot zuführt, er sinken und unter¬
gehen muß — da bemerkt er vor sich einen herrenlosen Nachen. Er hebt
seinen Arm empor, er hat den Bord gefaßt. Noch einmal strengt er all
seine Kräfte an — er ist im Boote! „Gottlob! Gottlob!" ruft er in
den Kampf der Elemente hinaus und betend setzt er hinzu: „O Herr,
hilf! O Herr, laß wohlgelingen!" Er ergreift ein Ruder und — dahin
schießt das Boot wie ein Pfeil. Jetzt ist er in der Straße. Dort steht
das Elternhaus! Nach wenigen Minuten legt er unter dem Fenster des
zweiten Geschosses an. Die trostlosen Eltern leben auf, denn der Ver¬
lorengeglaubte lebt und bringt Rettung. Sie steigen ein, die Ver¬
zagenden — denn ein Teil des Hauses war schon eingestürzt—und wenige
Minuten noch, so sind alle gerettet! Kurz darauf brach das Haus völlig
zusammen. Nach O. Horn.
v. Sagen.
a) Antike Sagen.
38. Die Deukalionische Flut.
Als Jupiter die Verderbtheit der Menschen erkannt hatte, beschloß
er das gesamte Menschengeschlecht auszurotten. Alle Winde, welche die
Wolken verscheuchen und den Himmel klären, schloß er ein und ließ nur
den regenbringenden Notus wehen. Der flog über die Erde mit feuchten
Schwingen, das Haupt mit schwarzem Dunkel umhüllt; aus dem langen
Bart und dem grauen Haar, aus Gefieder und Busen trieft die Flut,
und wie er mit der Hand die weit umher hangenden Wolken drückt,
strömen unter donnerndem Brauser: dichte Regengüsse vom Himmel;
Iris im buntschimmernden Gewände schöpft unaufhörlich Wasser und
Münchener Lesebuch. II. 7. Auflage.
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