Full text: Lesebuch der Erdkunde

5. Das Hochgebirge und das Alpenland. Der Montblanc. 55 
der anderen Seite wieder hinauf. Allein nun fingen die Schwächsten der Reisegesellschaft 
— es war bereits der Tag gesunken — an zn ermatten. Nur mutig vorwärts! Jene 
Felsen, die wir dort vor uns haben, sind die Grands Mulets, wo wir die Nacht zubringen 
sollen; und wenn wir uns noch eine halbe Stunde über den Gebirgskamm hinüberge- 
arbeitet haben, erreichen wir sie. Um 6 Uhr abends, gerade zwölf Stunden nach dem 
Aufbruch, sind wir richtig bei den Grand Mulets augelangt, wo unser Nachtlager auf- 
geschlagen werden soll. Nachdem mir ein wenig ausgeruht, macht sich alles an die 
Arbeit. Feuer werden augezündet, Lebensmittel ausgepackt, Betten zugerüstet, uud 
während wir zu Nacht essen, steigen die Führer auf den Felsen, fegen den Schnee weg, 
machen das Lager zurecht, und befestigen Tevpiche auf Alpstöcke am Felsen znr Be- 
dachung 
§ 50. Wir sind aus der ersten Hochplatte 3050 m hoch, in der Region des ewigen 
Schnees, der furchtbaren Lawinen uud der erhabensten Alpenaussichten. Durch ein 
Fernrohr können wir das Signal in Ehamonny erblicken, daß sie uns alle wohlbehalten 
ankommen sahen. Die Nacht bricht ein, uud welch eiu Himmel ist über uns! Er ist fast 
schwarz, und der Jupiter steigt auf strahlend gleich dem Mond. „Nuu meine Herren," 
sagt der Kapitän, „klettern Sie iu Ihre Koje; rücken Sie dicht zusammen, denn es ist 
grimmig kalt, und das Alpenschlafzimmer ist kein ganz behagliches Nest!" Der Umhang 
wird vorgezogen, und der Führer ruft uns sein „Gute Nacht!" herauf. 
Es ist 3 Uhr morgens. Die Führer rüsten schnell alles für den letzten Anlauf, 
der uns volle sechs Stunden kosten wird, und mehr Anstrengung als sonst eine Fußreise 
von fünfzehn Stunden in einem Tage. Aber, obwohl mancher hier umkehrt, wir uicht. 
Der Kapitän ruft uns zu: „Nehmeu Sie eiu leichtes Frühstück; legen Sie alle eutbehr- 
lichen Kleider ab; ziehen Sie Ihre dicken uägelbeschlageuen Stiefel an. und binden Sie 
Ihre grünen Schleier fest über's Gesicht. So, jetzt mögen Sie sich in Gesellschaften von 
drei bis sechs Personen zusammeubiuden. Fassen Sie guten Mut und folgen Sie mir!" 
Die ganze Nacht hindurch hatten wir die donnernden Lawinen gehört. Jetzt sehen wir 
sie: dort oben links hangen sie schauerlich au der Aiguille du midi, und schweigend eilen wir 
vorüber, bis wir ans ihrem Bereiche sind. — Wir sind nun in ein Eisthal gegen den 
Dome du Goüte eingetreten, und die Ersteigung desselben, über Krümmungen und Ab- 
fälle von 30 bis 60 Grad Austeigung, also jäher als eiu Dach, über staubigen Schnee, 
der mit dünnem Eis bedeckt ist, macht uns tüchtig zn schaffen; oft muß das Beil des 
Führers uns erst einen Tritt für den Fuß hauen. Jetzt will der Atem ausgehen; 
jedermann keucht und steht alle 15-20 Schritte still; die meisten von uns haben ordentlich 
Fieber. Auch der Appetit ist weg, und niemand von uns will etwas essen, bis wir 
wieder herunter sind. 
Wir siud auf dem grand plateau (3932 m) angekommen. Hier wird eine halbe Stnnde 
Halt gemacht, teils um Atem zu holeu, teils um die immer größer werdende Aussicht zu 
genießen. Doch wir müssen weiter: in einer Stunde haben wir das letzte Plateau 
erreicht, und nun — welch ein freudiger Anblick! — sehen wir den Gipfel, der noch 
1000 Fuß höher ist. Wir wenden uus links uud schreiten mit größter Vorsicht weiter, 
denn der Pfad ist steil, auf beiden Seiten abschüssig, uud hat viele gefährliche Spalten. 
Man kämpft, man keucht, mau fällt auch zuweilen, mau hat über 100 Pulsschläge iu der 
Minute; aber man komnit endlich zu den rochers rouges, einem gefährlichen Platze, der 
vor einiger Zeit drei Führern das Leben gekostet hat. Wir arbeiten uns immer weiter, 
und nachdem wir das Plateau zwei Stunden unter uns haben, ist die ganze Partie oben 
angelangt. „Hnrrah!" oder „Gottlob!" ruft, wer noch rufen kann. Einige Augenblicke 
lang liegt alles atemlos auf dem Boden, einige sicher mit dankbarem Lobe Gottes auf 
deu Lippen; dann steht man auf und blickt umher auf ein Schauspiel, wie es etwa ein 
Engel genießt, der eine himmlische Botschaft auf die Erde bringt. 
§51. Die Aussicht vom Montblanc beschreibt unser Erzähler folgendermaßen: 
Der Montblanc ist derhöchstePuukt von Europa, uud alle benachbarten Alpen stehen 
wie Trabanteil in Reih nnd Glied nm den Monarchen her. Dort in weiter Ferne hinter dem 
Mont Cenis steigen aus dem Meere die Seealpen, an sie schließt sich die ganze Kette der süd- 
lichen Alpen bis herauf zu dm eisbedeckteu Gipfeln von Savoyen; drüben liegt die Kette 
des Jura vou einem Ende zum andern, zwischen beiden in der Tiefe der Genfer See; 
dann im Nordost und Ost türmen sich die beiden schneeigen Alpenketten der Berner nnd der
	        
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