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Becker.
drei schwarzen Steinen das Todesurteil über ihn ausge¬
sprochen. ]
Das Urteil würde gleich am solgendeN Tage vollstreckt
worden sein, wäre nicht zufällig gerade den Tag zuvor die
heilige Prozession nach Delos abgegangen, während deren
Abwesenheit keine Hinrichtung in Athen geschehen durfte.
Noch hielten widrige Winde das Schiff diesmal länger als
gewöhnlich auf, und dies verschaffte den Schülern des
Sokrates das schmerzlich süße Vergnügen, ihren Lehrer noch
dreißig Tage behalten zu können. Sie besuchten ihn wäh¬
rend dieser Zeit täglich im Gefängnisse. Dem Apollodoros,
dessen Schmerz am ausgelassensten war, und der einmal
verzweifelnd ausrief: „Nein, so unschuldig sterben zu
müssen!" entgegnete er lächelnd: „Möchtest du etwa lieber,
daß ich schuldig wäre?"
Den Tag vor seinem Tode entdeckte ihm Kriton
schüchtern, er habe eine Summe Geldes zusammengebracht,
die Wächter zu bestechen, daß sie die nächste Nacht die
Tür offen ließen. „O Kriton," antwortete ihm Sokrates,
„in welches Land könnte ich wohl dem Tode entrinnen?"
Kriton meinte, er sei es doch seinen Kindern schuldig, den
Verfügungen einer ungerechten Justiz zuvor zu kommen:
aber Sokrates bewies ihm, daß keine Ungerechtigkeit uns
berechtigen könne, den Gesetzen des Vaterlandes ungehor¬
sam zu sein. Und jo verließ ihn denn am Abend weh¬
mütig die treue Schar, mit der Abrede, morgen früher
als gewöhnlich wieder zu kommen.
Sie fanden diesmal die Gerichtsdiencr bei ihm, welche
seine Ketten löseten und ihm ankündigten, daß er vor
Sonnenuntergang den Giftbecher trinken müsse. Auch seine
Frau Xanthippe war da und trug das jüngste Kind auf
ihren Armen. Ihres Wehklagens müde, ließ Sokrates sie
durch den Kriton hinwegsühren. Dann setzte er sich auf
ein Ruhebette, zog das Schienbein an sich und rieb sich
die Stelle an demselben, wo die Kette ihn wund gedrückt
hatte, wobei er ein Gespräch über die nahen Grenzen des