Full text: Klasse 5 (sechstes Schuljahr) (Teil 5, [Schülerband])

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vor das Lager, und da er nicht feststehen wollte, schob sie dem 
zu kurzen Fuß eine Scherbe unter; darauf rieb sie die Platte mit 
frischer Krauseminze und trug die Speisen auf. Da waren Oliven, 
herbstliche Kornelkirschen, eingemacht in klarem, dicklichtem Safte, 
auch Rettich, Endivien und trefflicher Käse und Eier, in warmer 
Asche gesotten. Alles das brachte Baucis auf irdenem Geschirr, 
und dabei prangten der bunte, tönerne Mischkrug und zierliche Becher 
aus Buchenholz, innen mit gelbem Wachs geglättet. Weder von 
hohem Alter noch gar zu süß war der Wein, den der redliche 
Wirt einschenkte. Jetzt aber sandte der Herd die warmen Gerichte, 
und die Becher wurden zur Seite geschoben, damit es an Platz 
nicht mangle für den Nachtisch. Nüsse, Feigen und runzlichte 
Datteln wurden herbeigetragen, auch zwei Körbchen mit Pflaumen 
und duftenden Äpfeln; selbst Trauben vom purpurnen Weinstock 
fehlten nicht, und in der Mitte der Tafel prangte eine weißliche 
Honigscheibe. Die schönste Würze des Mahls aber waren die 
guten, freundlichen Gesichter der wackern Alten, aus denen Frei¬ 
gebigkeit und treuherziger Sinn sprachen. 
Während nun alle an Speise und Trank sich labten, bemerkte 
Philemon, daß der Mischkrug trotz der immer von neuem gefüllten 
Becher sich nicht leeren wollte und stets der Wein wieder bis zum 
Rande emporwuchs. Da erkannte er mit Staunen und Furcht, wen 
er beherbergte; ängstlich flehte er samt seiner greisen Genossin 
mit emporgehobenen Armen und demütig gesenkten Augen, daß 
sie gnädig auf das dürftige Mahl schauten und ob der schlechten 
Bewirtung nicht zürnten. Ach! was sollen sie nur den himmlischen 
Gästen bieten? Richtig, da fällt ihnen ein: draußen im Ställchen 
ist ja die einzige Gans, die wollen sie sogleich opfern! Beide eilen 
hinaus, aber die Gans ist schneller als sie; mit Geschrei und flattern¬ 
den Flügeln entwischt sie den keuchenden Alten und lockt sie bald 
hier-, bald dorthin. Zuletzt gar rannte sie ins Haus hinein und ver¬ 
kroch sich hinter den Gästen, als ob sie die Unsterblichen um 
Schutz flehte. Und er ward ihr gewährt; die Gäste wehrten dem 
Eifer der beiden Alten und sprachen mild lächelnden Mundes also: 
„Wir sind Götter! Der Menschen Gastlichkeit zu erforschen, stiegen 
wir nieder zur Erde. Eure Nachbarn fanden wir ruchlos, und sie 
sollen der Strafe nicht entrinnen. Ihr aber verlaßt dieses Haus,
	        
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