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wie ich bin, will ich hoffen und warten." Er sank dar¬
nieder und seine Zweige weinten.
Nicht lange wartete und weinte er; siehe, da trat die
Gottheit der Erde, der freundliche Mensch zu ihm. Er
sah ein schwaches Gewächs, ein Spiel der Lüste, das unter
sich sank und Hilfe begehrte. Mitleidig richtete er es auf
und schlang den zarten Baum an seiner Laube hinauf.
Froher spielten setzt die Lüfte mit seinen Neben, die Glut
der Sonne durchdraug seine harten, grünenden Körner,
bereitend in ihnen den süßen Saft, den Trank für Göt¬
ter und Menschen. Mit reichen Trauben geschmückt neigte
bald der Weinstück sich zu seinem Herrn nieder, und die¬
ser kostete seinen erquickenden Saft und nannte ihn seinen
Freund, seinen dankbaren Liebling. Die stolzen Bäume
beneideten ihn jetzt, denn viele standen entfruchtet da; er
aber freute sich voll Dankbarkeit seines geringen Wuchses,
seiner ausharrenden Demuth.
Darum erfreut sein Saft noch jetzt des traurigen
Menschen Herz und hebt empor den niedersinkenden Muth
und erquickt den Betrübten.
Verzage nicht, Verlassener, und harre duldend aus!
Im unansehnlichen Rohre quillt der süßeste Saft; die
schwache Nebe gebiert den erquickendsten Trank der Erde.
54. Wie die Vögel singen lernen.
Es war ein sehr schöner Maimorgen, als ich einmal
ganz in der Frühe durch den grünen Wald ging. Die
Sonne war auch erst herauf gekommen und schaute sich
mit großen Augen darin um, daß die Thautropfen auf
den Blättern vor Freude blinkten und glitzerten, und
überall von den Zweigen guckten die Vögel herunter,
badeten sich im frischen Thau und sangen mit Heller-
Stimme ein Lied.
O du mein Gott, dachte ich, wie's doch so schön ist
ans deiner Welt! — Und als ich weiter ging, bekam ich
einen guten Tag über den andern von den muntern Thier-
chen. Da fragt' ich so ein junges Vögelchen, das wacker
mitgeschrieen hatte, von weni es denn in aller Welt einen
so köstlichen Gesang gelernt, bei welchem dem Wanderer
vor Freuden das Herz hüpfe?