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Griechische Sagen.
Göttern bestimmt, dazu als himmlische Gattin die blühende Hebe, die
ewig jugendliche.
Als Amphitryo das hohe Geschick des Knaben ans dem Munde
des Sehers vernommen hatte, beschloß er, ihm eine würdige Erziehung
zu geben. Er bat die Helden aller Gegenden, sich an seinem Hofe zu
versammeln und den jungen Herakles in allen Wissenschaften zu unter¬
richten. Der zeigte sich als ein gelehriger Knabe; aber Härte konnte
er nicht ertragen. Als ihn einst der alte, grämliche Linos, welcher ihn
die Buchstabenschrift lehrte, mit ungerechten Schlägen zurechtwies,
griff er nach seiner Zither und warf sie dem Hofmeister an den Kopf,
daß er tot zu Boden fiel. Da der junge Herakles Reue über diese
Mordtat empfand, so wurde ihm in Anbetracht seiner Jugend der Frevel
verziehen, und er blieb straffrei. Doch fürchtete Amphitryo, sein über-
krüftiger Sohn möchte sich wieder Ähnliches zu schulden kommen lassen;
er schickte ihn deshalb auf das Land zu seinen Ochsenherden. Auch hier
tat er sich durch Größe und Stärke vor allen Hirten hervor. Als
ein Sohn des Zeus war er furchtbar anzusehen: er war vier Ellen
hoch, und Feuerglanz entströmte seinen Augen. Als er das achtzehnte
Jahr erreicht hatte, war er der stärkste und schönste Mann Griechen¬
lands, und es sollte sich jetzt entscheiden, ob er diese Kraft zum Guten
oder zum Schlimmen anwenden werde.
2. Herakles am Scheidewege.
Als Herakles ans dem Kithäron weilte, in einem Lebensalter, in
dem der Knabe zum Jüngling wird und die ersten ernsten Blicke in die
Zukunft wirft, zog er eines Tages von Hirten und Herden weg in die
Einsamkeit und überlegte, in ernste Gedanken versunken, welchen Lebens¬
pfad er in Zukunft wandeln sollte. Da sah er zwei stattliche Frauen
auf sich zukommen. Die eine zeigte in ihrem Aussehen Anstand und
hohen Adel; ihren Leib schmückte Reinlichkeit, Bescheidenheit ihr Auge;
ihre Haltung war sittsam, fleckenlos rein ihr weißes Gewand. Anders
die zweite. In ein üppiges Gewand gekleidet, beschaute sie sich selber
mit Wohlgefallen, und herausfordernd ließ sie ihr stolzes Auge hierhin
und dorthin schweifen. Eilend schritt sie auf den Jüngling zu und
sprach: „Ich sehe, Herakles, daß du unschlüssig bist, welchen Weg des
Lebens du einschlagen sollst. Wenn du mich zur Freundin erwählst,
wirst du den angenehmsten und an Freuden reichsten Weg wandeln,
du wirst kein Vergnügen ungekostet lassen und ein Leben sonder Be¬
schwerde zubringen. Um Kriege wirst du dich wenig bekümmern; deine
einzige Sorge wird sein, wie du an köstlichen Dingen dich ergötzest und
dein Auge, dein Ohr und alle Sinne erfreuest."
Als Herakles diese Versprechungen hörte, fragte er: „O Weib,